Die Allegorie sagt also nicht, was sie den Wor- ten nach zu sagen scheinet, sondern etwas ähnli- ches. Und die Handlung der Fabel, wenn sie alle- gorisch seyn soll, muß das auch nicht sagen, was sie zu sagen scheinet, sondern nur etwas ähnliches?
Wir wollen sehen! -- "Der Schwächere wird "gemeiniglich ein Raub des Mächtigern." Das ist ein allgemeiner Satz, bey welchem ich mir eine Reihe von Dingen gedenke, deren eines immer stärker ist als das andere; die sich also, nach der Fol- ge ihrer verschiednen Stärke, unter einander auf- reiben können. Eine Reihe von Dingen! Wer wird lange und gern den öden Begriff eines Din- ges denken, ohne auf dieses oder jenes besondere Ding zu fallen, dessen Eigenschaften ihm ein deut- liches Bild gewähren? Ich will also auch hier, an- statt dieser Reihe von unbestimmten Dingen, eine Reihe bestimmter, wirklicher Dinge annehmen. Ich könnte mir in der Geschichte eine Reihe von Staaten oder Königen suchen; aber wie viele sind in der Geschichte so bewandert, daß sie, so bald ich meine Staaten oder Könige nur nennte, sich der
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Die Allegorie ſagt alſo nicht, was ſie den Wor- ten nach zu ſagen ſcheinet, ſondern etwas ähnli- ches. Und die Handlung der Fabel, wenn ſie alle- goriſch ſeyn ſoll, muß das auch nicht ſagen, was ſie zu ſagen ſcheinet, ſondern nur etwas ähnliches?
Wir wollen ſehen! — „Der Schwächere wird „gemeiniglich ein Raub des Mächtigern.“ Das iſt ein allgemeiner Satz, bey welchem ich mir eine Reihe von Dingen gedenke, deren eines immer ſtärker iſt als das andere; die ſich alſo, nach der Fol- ge ihrer verſchiednen Stärke, unter einander auf- reiben können. Eine Reihe von Dingen! Wer wird lange und gern den öden Begriff eines Din- ges denken, ohne auf dieſes oder jenes beſondere Ding zu fallen, deſſen Eigenſchaften ihm ein deut- liches Bild gewähren? Ich will alſo auch hier, an- ſtatt dieſer Reihe von unbeſtimmten Dingen, eine Reihe beſtimmter, wirklicher Dinge annehmen. Ich könnte mir in der Geſchichte eine Reihe von Staaten oder Königen ſuchen; aber wie viele ſind in der Geſchichte ſo bewandert, daß ſie, ſo bald ich meine Staaten oder Könige nur nennte, ſich der
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Die Allegorie ſagt alſo nicht, was ſie den Wor-
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ches. Und die Handlung der Fabel, wenn ſie alle-
goriſch ſeyn ſoll, muß das auch nicht ſagen, was
ſie zu ſagen ſcheinet, ſondern nur etwas ähnliches?
Wir wollen ſehen! — „Der Schwächere wird
„gemeiniglich ein Raub des Mächtigern.“
Das iſt ein allgemeiner Satz, bey welchem ich mir
eine Reihe von Dingen gedenke, deren eines immer
ſtärker iſt als das andere; die ſich alſo, nach der Fol-
ge ihrer verſchiednen Stärke, unter einander auf-
reiben können. Eine Reihe von Dingen! Wer
wird lange und gern den öden Begriff eines Din-
ges denken, ohne auf dieſes oder jenes beſondere
Ding zu fallen, deſſen Eigenſchaften ihm ein deut-
liches Bild gewähren? Ich will alſo auch hier, an-
ſtatt dieſer Reihe von unbeſtimmten Dingen, eine
Reihe beſtimmter, wirklicher Dinge annehmen.
Ich könnte mir in der Geſchichte eine Reihe von
Staaten oder Königen ſuchen; aber wie viele ſind
in der Geſchichte ſo bewandert, daß ſie, ſo bald ich
meine Staaten oder Könige nur nennte, ſich der
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Lessing, Gotthold Ephraim: Fabeln. Berlin, 1759, S. 121. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_fabeln_1759/141>, abgerufen am 16.02.2025.
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