Was wäre nun der Grund, warum diese Fabel er- dichtet worden, wenn es anders eine Fabel wäre? Recht billig zu urtheilen, könnte es kein andrer als dieser seyn: der Dichter habe einen wahrscheinlichen Anlaß zu dem doppelten Verbote, weder von dem heiligen Feuer ein gemeines Licht, noch von einem gemeinen Lichte das heilige Feuer an- zuzünden, erzehlen wollen. Aber wäre das eine moralische Absicht, dergleichen der Fabulist doch nothwendig haben soll? Zur Noth könnte zwar die- ses einzelne Verbot zu einem Bilde des allgemeinen Verbots dienen, daß das Heilige mit dem Un- heiligen, das Gute mit dem Bösen in keiner Gemeinschaft stehen soll. Aber was tragen als- denn die übrigen Theile der Erzehlung zu diesem Bilde bey? Zu diesem gar nichts; sondern ein jeder ist vielmehr das Bild, der einzelne Fall einer ganz andern allgemeinen Wahrheit. Der Dichter hat es selbst empfunden, und hat sich aus der Verlegenheit, welche Lehre er allein daraus ziehen solle, nicht besser zu reissen gewußt, als wenn er deren so viele daraus zöge, als sich nur immer ziehen liessen. Denn er schließt:
Quot
Was wäre nun der Grund, warum dieſe Fabel er- dichtet worden, wenn es anders eine Fabel wäre? Recht billig zu urtheilen, könnte es kein andrer als dieſer ſeyn: der Dichter habe einen wahrſcheinlichen Anlaß zu dem doppelten Verbote, weder von dem heiligen Feuer ein gemeines Licht, noch von einem gemeinen Lichte das heilige Feuer an- zuzünden, erzehlen wollen. Aber wäre das eine moraliſche Abſicht, dergleichen der Fabuliſt doch nothwendig haben ſoll? Zur Noth könnte zwar die- ſes einzelne Verbot zu einem Bilde des allgemeinen Verbots dienen, daß das Heilige mit dem Un- heiligen, das Gute mit dem Böſen in keiner Gemeinſchaft ſtehen ſoll. Aber was tragen als- denn die übrigen Theile der Erzehlung zu dieſem Bilde bey? Zu dieſem gar nichts; ſondern ein jeder iſt vielmehr das Bild, der einzelne Fall einer ganz andern allgemeinen Wahrheit. Der Dichter hat es ſelbſt empfunden, und hat ſich aus der Verlegenheit, welche Lehre er allein daraus ziehen ſolle, nicht beſſer zu reiſſen gewußt, als wenn er deren ſo viele daraus zöge, als ſich nur immer ziehen lieſſen. Denn er ſchließt:
Quot
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0159"n="139"/>
Was wäre nun der Grund, warum dieſe Fabel er-<lb/>
dichtet worden, wenn es anders eine Fabel wäre?<lb/>
Recht billig zu urtheilen, könnte es kein andrer als<lb/>
dieſer ſeyn: der Dichter habe einen wahrſcheinlichen<lb/>
Anlaß zu dem doppelten Verbote, <hirendition="#fr">weder von dem<lb/>
heiligen Feuer ein gemeines Licht, noch von<lb/>
einem gemeinen Lichte das heilige Feuer an-<lb/>
zuzünden</hi>, erzehlen wollen. Aber wäre das eine<lb/><hirendition="#fr">moraliſche</hi> Abſicht, dergleichen der Fabuliſt doch<lb/>
nothwendig haben ſoll? Zur Noth könnte zwar die-<lb/>ſes einzelne Verbot zu einem Bilde des allgemeinen<lb/>
Verbots dienen, <hirendition="#fr">daß das Heilige mit dem Un-<lb/>
heiligen, das Gute mit dem Böſen in keiner<lb/>
Gemeinſchaft ſtehen ſoll</hi>. Aber was tragen als-<lb/>
denn die übrigen Theile der Erzehlung zu dieſem<lb/>
Bilde bey? Zu dieſem gar nichts; ſondern ein jeder<lb/>
iſt vielmehr das Bild, der einzelne Fall einer ganz<lb/>
andern allgemeinen Wahrheit. Der Dichter hat es<lb/>ſelbſt empfunden, und hat ſich aus der Verlegenheit,<lb/>
welche Lehre er <hirendition="#fr">allein</hi> daraus ziehen ſolle, nicht beſſer zu<lb/>
reiſſen gewußt, als wenn er deren ſo viele daraus zöge,<lb/>
als ſich nur immer ziehen lieſſen. Denn er ſchließt:</p><lb/><fwplace="bottom"type="catch"><hirendition="#aq">Quot</hi></fw><lb/></div></div></div></body></text></TEI>
[139/0159]
Was wäre nun der Grund, warum dieſe Fabel er-
dichtet worden, wenn es anders eine Fabel wäre?
Recht billig zu urtheilen, könnte es kein andrer als
dieſer ſeyn: der Dichter habe einen wahrſcheinlichen
Anlaß zu dem doppelten Verbote, weder von dem
heiligen Feuer ein gemeines Licht, noch von
einem gemeinen Lichte das heilige Feuer an-
zuzünden, erzehlen wollen. Aber wäre das eine
moraliſche Abſicht, dergleichen der Fabuliſt doch
nothwendig haben ſoll? Zur Noth könnte zwar die-
ſes einzelne Verbot zu einem Bilde des allgemeinen
Verbots dienen, daß das Heilige mit dem Un-
heiligen, das Gute mit dem Böſen in keiner
Gemeinſchaft ſtehen ſoll. Aber was tragen als-
denn die übrigen Theile der Erzehlung zu dieſem
Bilde bey? Zu dieſem gar nichts; ſondern ein jeder
iſt vielmehr das Bild, der einzelne Fall einer ganz
andern allgemeinen Wahrheit. Der Dichter hat es
ſelbſt empfunden, und hat ſich aus der Verlegenheit,
welche Lehre er allein daraus ziehen ſolle, nicht beſſer zu
reiſſen gewußt, als wenn er deren ſo viele daraus zöge,
als ſich nur immer ziehen lieſſen. Denn er ſchließt:
Quot
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Lessing, Gotthold Ephraim: Fabeln. Berlin, 1759, S. 139. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_fabeln_1759/159>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.