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Lessing, Gotthold Ephraim: Fabeln. Berlin, 1759.

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von selbst geschenkt hätten! -- In der Fabel wird
nicht eine jede Wahrheit, sondern ein allgemei-
ner moralischer Satz, nicht unter die Allegorie
einer Handlung
, sondern auf einen einzeln Fall,
nicht versteckt oder verkleidet, sondern so zurück-
geführet, daß ich, nicht bloß einige Aehnlich-
keiten mit dem moralischen Satze in ihm ent-
decke
, sondern diesen ganz auschauend darinn erkenne.

Und das ist das Wesen der Fabel? Das ist es,
ganz erschöpft? -- Ich wollte es gern meine Leser
bereden, wenn ich es nur erst selbst glaubte. --
Ich lese bey dem Aristoteles *:

"Eine obrigkeitli-
"che Person durch das Looß ernennen, ist eben als
"wenn ein Schiffsherr, der einen Steuermann
"braucht, es auf das Looß aukommen liesse, wel-
"cher von seinen Matrosen es seyn sollte, anstatt
"daß er den allergeschicktesten dazu unter ihnen mit
"Fleiß aussuchte."

-- Hier sind zwey besondere
Fälle, die unter eine allgemeine moralische Wahr-
heit gehören. Der eine ist der sich eben itzt äussern-
de; der andere ist der erdichtete. Ist dieser erdich-

tete,
* Aristoteles Rhetor. libr. II. cap. 20.

von ſelbſt geſchenkt hätten! — In der Fabel wird
nicht eine jede Wahrheit, ſondern ein allgemei-
ner moraliſcher Satz, nicht unter die Allegorie
einer Handlung
, ſondern auf einen einzeln Fall,
nicht verſteckt oder verkleidet, ſondern ſo zurück-
geführet, daß ich, nicht bloß einige Aehnlich-
keiten mit dem moraliſchen Satze in ihm ent-
decke
, ſondern dieſen ganz auſchauend darinn erkenne.

Und das iſt das Weſen der Fabel? Das iſt es,
ganz erſchöpft? — Ich wollte es gern meine Leſer
bereden, wenn ich es nur erſt ſelbſt glaubte. —
Ich leſe bey dem Ariſtoteles *:

„Eine obrigkeitli-
„che Perſon durch das Looß ernennen, iſt eben als
„wenn ein Schiffsherr, der einen Steuermann
„braucht, es auf das Looß aukommen lieſſe, wel-
„cher von ſeinen Matroſen es ſeyn ſollte, anſtatt
„daß er den allergeſchickteſten dazu unter ihnen mit
„Fleiß ausſuchte.“

— Hier ſind zwey beſondere
Fälle, die unter eine allgemeine moraliſche Wahr-
heit gehören. Der eine iſt der ſich eben itzt äuſſern-
de; der andere iſt der erdichtete. Iſt dieſer erdich-

tete,
* Ariſtoteles Rhetor. libr. II. cap. 20.
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[159/0179] von ſelbſt geſchenkt hätten! — In der Fabel wird nicht eine jede Wahrheit, ſondern ein allgemei- ner moraliſcher Satz, nicht unter die Allegorie einer Handlung, ſondern auf einen einzeln Fall, nicht verſteckt oder verkleidet, ſondern ſo zurück- geführet, daß ich, nicht bloß einige Aehnlich- keiten mit dem moraliſchen Satze in ihm ent- decke, ſondern dieſen ganz auſchauend darinn erkenne. Und das iſt das Weſen der Fabel? Das iſt es, ganz erſchöpft? — Ich wollte es gern meine Leſer bereden, wenn ich es nur erſt ſelbſt glaubte. — Ich leſe bey dem Ariſtoteles *: „Eine obrigkeitli- „che Perſon durch das Looß ernennen, iſt eben als „wenn ein Schiffsherr, der einen Steuermann „braucht, es auf das Looß aukommen lieſſe, wel- „cher von ſeinen Matroſen es ſeyn ſollte, anſtatt „daß er den allergeſchickteſten dazu unter ihnen mit „Fleiß ausſuchte.“ — Hier ſind zwey beſondere Fälle, die unter eine allgemeine moraliſche Wahr- heit gehören. Der eine iſt der ſich eben itzt äuſſern- de; der andere iſt der erdichtete. Iſt dieſer erdich- tete, * Ariſtoteles Rhetor. libr. II. cap. 20.

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Zitationshilfe: Lessing, Gotthold Ephraim: Fabeln. Berlin, 1759, S. 159. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_fabeln_1759/179>, abgerufen am 21.11.2024.