Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Lessing, Gotthold Ephraim: Fabeln. Berlin, 1759.

Bild:
<< vorherige Seite

tur; und die Schuld ist also einzig und allein meine.
Ich habe die Versification nie so in meiner Gewalt
gehabt, daß ich auf keine Weise besorgen dürffen,
das Sylbenmaaß und der Reim werde hier und da
den Meister über mich spielen. Geschähe das, so
wäre es ja um die Kürze gethan, und vielleicht noch
um mehr wesentliche Eigenschaften der guten Fabel.
Denn zweytens -- Ich muß es nur gestehen; ich
bin mit dem Phädrus nicht so recht zu frieden.
De la Motte hatte ihm weiter nichts vorzuwerfen,
als "daß er seine Moral oft zu Anfange der Fabeln
"setze, und daß er uns manchmal eine allzu unbe-
"stimmte Moral gebe, die nicht deutlich genug aus
"der Allegorie entspringe.
Der erste Vorwurf be-
trift eine wahre Kleinigkeit; der zweyte ist unendlich
wichtiger, und leider gegründet. Doch ich will nicht
fremde Beschuldigungen rechtfertigen; sondern meine
eigne vorbringen. Sie läuft dahin aus, daß Phä-
drus
so oft er sich von der Einfalt der griechischen
Fabeln auch nur einen Schritt entfernt, einen plum-
pen Fehler begehet. Wie viel Beweise will man? z. E.
Fab. 4. Libri I.
Canis per flumen, carnem dum ferret natans,
Lympharum in speculo vidit simulacrum suum &c.

Es
P 3

tur; und die Schuld iſt alſo einzig und allein meine.
Ich habe die Verſification nie ſo in meiner Gewalt
gehabt, daß ich auf keine Weiſe beſorgen dürffen,
das Sylbenmaaß und der Reim werde hier und da
den Meiſter über mich ſpielen. Geſchähe das, ſo
wäre es ja um die Kürze gethan, und vielleicht noch
um mehr weſentliche Eigenſchaften der guten Fabel.
Denn zweytens — Ich muß es nur geſtehen; ich
bin mit dem Phädrus nicht ſo recht zu frieden.
De la Motte hatte ihm weiter nichts vorzuwerfen,
als „daß er ſeine Moral oft zu Anfange der Fabeln
„ſetze, und daß er uns manchmal eine allzu unbe-
„ſtimmte Moral gebe, die nicht deutlich genug aus
„der Allegorie entſpringe.
Der erſte Vorwurf be-
trift eine wahre Kleinigkeit; der zweyte iſt unendlich
wichtiger, und leider gegründet. Doch ich will nicht
fremde Beſchuldigungen rechtfertigen; ſondern meine
eigne vorbringen. Sie läuft dahin aus, daß Phä-
drus
ſo oft er ſich von der Einfalt der griechiſchen
Fabeln auch nur einen Schritt entfernt, einen plum-
pen Fehler begehet. Wie viel Beweiſe will man? z. E.
Fab. 4. Libri I.
Canis per flumen, carnem dum ferret natans,
Lympharum in ſpeculo vidit ſimulacrum ſuum &c.

Es
P 3
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0249" n="229"/>
tur; und die Schuld i&#x017F;t al&#x017F;o einzig und allein meine.<lb/>
Ich habe die Ver&#x017F;ification nie &#x017F;o in meiner Gewalt<lb/>
gehabt, daß ich auf keine Wei&#x017F;e be&#x017F;orgen dürffen,<lb/>
das Sylbenmaaß und der Reim werde hier und da<lb/>
den Mei&#x017F;ter über mich &#x017F;pielen. Ge&#x017F;chähe das, &#x017F;o<lb/>
wäre es ja um die Kürze gethan, und vielleicht noch<lb/>
um mehr we&#x017F;entliche Eigen&#x017F;chaften der guten Fabel.<lb/>
Denn <hi rendition="#fr">zweytens</hi> &#x2014; Ich muß es nur ge&#x017F;tehen; ich<lb/>
bin mit dem <hi rendition="#fr">Phädrus</hi> nicht &#x017F;o recht zu frieden.<lb/><hi rendition="#fr">De la Motte</hi> hatte ihm weiter nichts vorzuwerfen,<lb/>
als <cit><quote>&#x201E;daß er &#x017F;eine Moral oft zu Anfange der Fabeln<lb/>
&#x201E;&#x017F;etze, und daß er uns manchmal eine allzu unbe-<lb/>
&#x201E;&#x017F;timmte Moral gebe, die nicht deutlich genug aus<lb/>
&#x201E;der Allegorie ent&#x017F;pringe.</quote><bibl/></cit> Der er&#x017F;te Vorwurf be-<lb/>
trift eine wahre Kleinigkeit; der zweyte i&#x017F;t unendlich<lb/>
wichtiger, und leider gegründet. Doch ich will nicht<lb/>
fremde Be&#x017F;chuldigungen rechtfertigen; &#x017F;ondern meine<lb/>
eigne vorbringen. Sie läuft dahin aus, daß <hi rendition="#fr">Phä-<lb/>
drus</hi> &#x017F;o oft er &#x017F;ich von der Einfalt der griechi&#x017F;chen<lb/>
Fabeln auch nur einen Schritt entfernt, einen plum-<lb/>
pen Fehler begehet. Wie viel Bewei&#x017F;e will man? z. E.<lb/><cit><quote><hi rendition="#aq">Fab. 4. Libri I.<lb/>
Canis per flumen, carnem dum ferret natans,<lb/>
Lympharum in &#x017F;peculo vidit &#x017F;imulacrum &#x017F;uum &amp;c.</hi></quote><bibl/></cit><lb/>
<fw place="bottom" type="sig">P 3</fw><fw place="bottom" type="catch">Es</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[229/0249] tur; und die Schuld iſt alſo einzig und allein meine. Ich habe die Verſification nie ſo in meiner Gewalt gehabt, daß ich auf keine Weiſe beſorgen dürffen, das Sylbenmaaß und der Reim werde hier und da den Meiſter über mich ſpielen. Geſchähe das, ſo wäre es ja um die Kürze gethan, und vielleicht noch um mehr weſentliche Eigenſchaften der guten Fabel. Denn zweytens — Ich muß es nur geſtehen; ich bin mit dem Phädrus nicht ſo recht zu frieden. De la Motte hatte ihm weiter nichts vorzuwerfen, als „daß er ſeine Moral oft zu Anfange der Fabeln „ſetze, und daß er uns manchmal eine allzu unbe- „ſtimmte Moral gebe, die nicht deutlich genug aus „der Allegorie entſpringe. Der erſte Vorwurf be- trift eine wahre Kleinigkeit; der zweyte iſt unendlich wichtiger, und leider gegründet. Doch ich will nicht fremde Beſchuldigungen rechtfertigen; ſondern meine eigne vorbringen. Sie läuft dahin aus, daß Phä- drus ſo oft er ſich von der Einfalt der griechiſchen Fabeln auch nur einen Schritt entfernt, einen plum- pen Fehler begehet. Wie viel Beweiſe will man? z. E. Fab. 4. Libri I. Canis per flumen, carnem dum ferret natans, Lympharum in ſpeculo vidit ſimulacrum ſuum &c. Es P 3

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_fabeln_1759
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_fabeln_1759/249
Zitationshilfe: Lessing, Gotthold Ephraim: Fabeln. Berlin, 1759, S. 229. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_fabeln_1759/249>, abgerufen am 24.11.2024.