Sinne aller religiösen Begriffe entbehrte. Ihre Familie hatte sich von den jüdischen Ritual- gesetzen losgesagt; Jenny hatte daher von frü- hester Kindheit an sich gewöhnt, ebenso die Dogmen des Juden- als des Christenthums bezweifeln und verwerfen zu sehen, und es war ihr nie eingefallen, daß es Naturen geben könne, denen der Glaube an eine positive ge- offenbarte Religion Stütze und Bedürfniß sei. Ja, sie hatte ihn, wo ihr derselbe erschienen war, mitleidig wie eine geistige Schwäche be- trachtet. Um so mehr mußte es sie befremden, daß Reinhard, vor dessen Geist und Charakter ihr Bruder so viel Verehrung hatte, daß ihr Lehrer, der ihr sehr werth und interessant ge- worden, einen Glauben für den Mittelpunkt der Bildung hielt, den sie wie ein leeres Mär- chen, eine verhüllende Allegorie zu betrachten gelernt hatte. Reinhard behauptete geradezu, daß ein weibliches Gemüth ohne festes Halten
Sinne aller religiöſen Begriffe entbehrte. Ihre Familie hatte ſich von den jüdiſchen Ritual- geſetzen losgeſagt; Jenny hatte daher von frü- heſter Kindheit an ſich gewöhnt, ebenſo die Dogmen des Juden- als des Chriſtenthums bezweifeln und verwerfen zu ſehen, und es war ihr nie eingefallen, daß es Naturen geben könne, denen der Glaube an eine poſitive ge- offenbarte Religion Stütze und Bedürfniß ſei. Ja, ſie hatte ihn, wo ihr derſelbe erſchienen war, mitleidig wie eine geiſtige Schwäche be- trachtet. Um ſo mehr mußte es ſie befremden, daß Reinhard, vor deſſen Geiſt und Charakter ihr Bruder ſo viel Verehrung hatte, daß ihr Lehrer, der ihr ſehr werth und intereſſant ge- worden, einen Glauben für den Mittelpunkt der Bildung hielt, den ſie wie ein leeres Mär- chen, eine verhüllende Allegorie zu betrachten gelernt hatte. Reinhard behauptete geradezu, daß ein weibliches Gemüth ohne feſtes Halten
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Sinne aller religiöſen Begriffe entbehrte. Ihre
Familie hatte ſich von den jüdiſchen Ritual-
geſetzen losgeſagt; Jenny hatte daher von frü-
heſter Kindheit an ſich gewöhnt, ebenſo die
Dogmen des Juden- als des Chriſtenthums
bezweifeln und verwerfen zu ſehen, und es war
ihr nie eingefallen, daß es Naturen geben
könne, denen der Glaube an eine poſitive ge-
offenbarte Religion Stütze und Bedürfniß ſei.
Ja, ſie hatte ihn, wo ihr derſelbe erſchienen
war, mitleidig wie eine geiſtige Schwäche be-
trachtet. Um ſo mehr mußte es ſie befremden,
daß Reinhard, vor deſſen Geiſt und Charakter
ihr Bruder ſo viel Verehrung hatte, daß ihr
Lehrer, der ihr ſehr werth und intereſſant ge-
worden, einen Glauben für den Mittelpunkt
der Bildung hielt, den ſie wie ein leeres Mär-
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Lewald, Fanny: Jenny. Bd. 1. Leipzig, 1843, S. 68. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lewald_jenny01_1843/80>, abgerufen am 24.11.2024.
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