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Lewald, Fanny: Jenny. Bd. 2. Leipzig, 1843.

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Gemisch von Spott und Schmerz ausdrückten.
"Wir wollen sie behüten, so gut es geht, aber
ich fürchte, auch sie wird nicht glücklich!"

Und leider war Joseph's Vermuthung nur
zu richtig. Je glücklicher sich Jenny in Rein-
hard's anbetender Liebe fühlte, um so mehr de-
müthigte sie der Gedanke, unwahr gegen ihn
zu sein. Von frühster Kindheit an hatte man
ihr die Lüge als etwas so Unedles, so Verächt-
liches dargestellt, daß sie sich nur mit Entsetzen
zu gestehen vermochte, wie tief sie sich in die-
selbe verwickelt habe. Der Zustand ihrer Seele
möchte für Den, der ihn nicht von selbst ver-
steht, schwer zu beschreiben sein. Sie fühlte
sich dem Elemente, in dem sie geboren, der
Atmosphäre, in der allein sie athmen konnte,
entrissen. Man hatte sie gelehrt, wahr gegen
sich selbst, gegen jeden Andern zu sein, und
Recht und Wahrheit waren die Sterne gewe-
sen, auf die man von jeher ihr Auge gelenkt.

Gemiſch von Spott und Schmerz ausdrückten.
„Wir wollen ſie behüten, ſo gut es geht, aber
ich fürchte, auch ſie wird nicht glücklich!“

Und leider war Joſeph's Vermuthung nur
zu richtig. Je glücklicher ſich Jenny in Rein-
hard's anbetender Liebe fühlte, um ſo mehr de-
müthigte ſie der Gedanke, unwahr gegen ihn
zu ſein. Von frühſter Kindheit an hatte man
ihr die Lüge als etwas ſo Unedles, ſo Verächt-
liches dargeſtellt, daß ſie ſich nur mit Entſetzen
zu geſtehen vermochte, wie tief ſie ſich in die-
ſelbe verwickelt habe. Der Zuſtand ihrer Seele
möchte für Den, der ihn nicht von ſelbſt ver-
ſteht, ſchwer zu beſchreiben ſein. Sie fühlte
ſich dem Elemente, in dem ſie geboren, der
Atmoſphäre, in der allein ſie athmen konnte,
entriſſen. Man hatte ſie gelehrt, wahr gegen
ſich ſelbſt, gegen jeden Andern zu ſein, und
Recht und Wahrheit waren die Sterne gewe-
ſen, auf die man von jeher ihr Auge gelenkt.

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[120/0130] Gemiſch von Spott und Schmerz ausdrückten. „Wir wollen ſie behüten, ſo gut es geht, aber ich fürchte, auch ſie wird nicht glücklich!“ Und leider war Joſeph's Vermuthung nur zu richtig. Je glücklicher ſich Jenny in Rein- hard's anbetender Liebe fühlte, um ſo mehr de- müthigte ſie der Gedanke, unwahr gegen ihn zu ſein. Von frühſter Kindheit an hatte man ihr die Lüge als etwas ſo Unedles, ſo Verächt- liches dargeſtellt, daß ſie ſich nur mit Entſetzen zu geſtehen vermochte, wie tief ſie ſich in die- ſelbe verwickelt habe. Der Zuſtand ihrer Seele möchte für Den, der ihn nicht von ſelbſt ver- ſteht, ſchwer zu beſchreiben ſein. Sie fühlte ſich dem Elemente, in dem ſie geboren, der Atmoſphäre, in der allein ſie athmen konnte, entriſſen. Man hatte ſie gelehrt, wahr gegen ſich ſelbſt, gegen jeden Andern zu ſein, und Recht und Wahrheit waren die Sterne gewe- ſen, auf die man von jeher ihr Auge gelenkt.

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Zitationshilfe: Lewald, Fanny: Jenny. Bd. 2. Leipzig, 1843, S. 120. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lewald_jenny02_1843/130>, abgerufen am 25.11.2024.