Augen. Sie reichte ihrem Vater, der gerade bei ihr war, den Brief und fragte bebend: "Kommt er? Sage mir, ob er kommt, ich kann nicht lesen." Verneinend schüttelte der Vater das Haupt, nachdem er den Brief beendet, und gab ihn der Tochter wieder, die sich gewaltsam zusammennahm und ihn mit Todesangst durch- flog. Eine tiefe Ohnmacht, das einzige Glück, das ihr in dieser Stunde werden konnte, senkte sich auf sie nieder.
Als sie erwachte, las sie wieder und immer wieder den Brief, ohne zu begreifen, wie Rein- hard an ihrer Liebe zweifeln könne, oder was der Gedanke bedeute, daß sie Reinhard um Erlau's willen aufopfere. Sie hatte sich ge- sagt, daß eine Trennung bei Reinhard's Ge- sinnung denkbar sei, aber für möglich hatte sie es nicht gehalten, trotz der Andeutungen ihres Vaters. "Von dem Geliebten verachtet, ohne
II. 7
Augen. Sie reichte ihrem Vater, der gerade bei ihr war, den Brief und fragte bebend: „Kommt er? Sage mir, ob er kommt, ich kann nicht leſen.“ Verneinend ſchüttelte der Vater das Haupt, nachdem er den Brief beendet, und gab ihn der Tochter wieder, die ſich gewaltſam zuſammennahm und ihn mit Todesangſt durch- flog. Eine tiefe Ohnmacht, das einzige Glück, das ihr in dieſer Stunde werden konnte, ſenkte ſich auf ſie nieder.
Als ſie erwachte, las ſie wieder und immer wieder den Brief, ohne zu begreifen, wie Rein- hard an ihrer Liebe zweifeln könne, oder was der Gedanke bedeute, daß ſie Reinhard um Erlau's willen aufopfere. Sie hatte ſich ge- ſagt, daß eine Trennung bei Reinhard's Ge- ſinnung denkbar ſei, aber für möglich hatte ſie es nicht gehalten, trotz der Andeutungen ihres Vaters. „Von dem Geliebten verachtet, ohne
II. 7
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0155"n="145"/>
Augen. Sie reichte ihrem Vater, der gerade<lb/>
bei ihr war, den Brief und fragte bebend:<lb/>„Kommt er? Sage mir, ob er kommt, ich kann<lb/>
nicht leſen.“ Verneinend ſchüttelte der Vater<lb/>
das Haupt, nachdem er den Brief beendet, und<lb/>
gab ihn der Tochter wieder, die ſich gewaltſam<lb/>
zuſammennahm und ihn mit Todesangſt durch-<lb/>
flog. Eine tiefe Ohnmacht, das einzige Glück,<lb/>
das ihr in dieſer Stunde werden konnte, ſenkte<lb/>ſich auf ſie nieder.</p><lb/><p>Als ſie erwachte, las ſie wieder und immer<lb/>
wieder den Brief, ohne zu begreifen, wie Rein-<lb/>
hard an ihrer Liebe zweifeln könne, oder was<lb/>
der Gedanke bedeute, daß ſie Reinhard um<lb/>
Erlau's willen aufopfere. Sie hatte ſich ge-<lb/>ſagt, daß eine Trennung bei Reinhard's Ge-<lb/>ſinnung denkbar ſei, aber für möglich hatte ſie<lb/>
es nicht gehalten, trotz der Andeutungen ihres<lb/>
Vaters. „Von dem Geliebten verachtet, ohne<lb/><fwplace="bottom"type="sig"><hirendition="#b"><hirendition="#aq">II.</hi></hi> 7</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[145/0155]
Augen. Sie reichte ihrem Vater, der gerade
bei ihr war, den Brief und fragte bebend:
„Kommt er? Sage mir, ob er kommt, ich kann
nicht leſen.“ Verneinend ſchüttelte der Vater
das Haupt, nachdem er den Brief beendet, und
gab ihn der Tochter wieder, die ſich gewaltſam
zuſammennahm und ihn mit Todesangſt durch-
flog. Eine tiefe Ohnmacht, das einzige Glück,
das ihr in dieſer Stunde werden konnte, ſenkte
ſich auf ſie nieder.
Als ſie erwachte, las ſie wieder und immer
wieder den Brief, ohne zu begreifen, wie Rein-
hard an ihrer Liebe zweifeln könne, oder was
der Gedanke bedeute, daß ſie Reinhard um
Erlau's willen aufopfere. Sie hatte ſich ge-
ſagt, daß eine Trennung bei Reinhard's Ge-
ſinnung denkbar ſei, aber für möglich hatte ſie
es nicht gehalten, trotz der Andeutungen ihres
Vaters. „Von dem Geliebten verachtet, ohne
II. 7
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Lewald, Fanny: Jenny. Bd. 2. Leipzig, 1843, S. 145. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lewald_jenny02_1843/155>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.