bei diesen Zweifeln zu einer Lüge wurde? Ver- gebens wollte sie die Vorstellungen in sich zu- rückrufen, die ihr vor wenig Stunden geläufig und klar gewesen waren; es gelang ihr nicht ebenso wenig, als es dem Erwachsenen gelingt, jene Empfindung in sich hervorzuzaubern, die wir als Kinder gewiß Alle gehabt haben, wenn wir im Wagen dahinfahrend wähnten, Bäume und Häuser an uns vorüberfliegen zu sehen, während wir stille ständen. Nachdem uns ein- mal das Gegentheil unumstößlich bewiesen wor- den, kann selbst unser fester Wille das Trug- bild nicht mehr erwecken. Einen Moment lang mag man hoffen, sich gegen die Wahrheit ver- blenden, eine liebgewordene Täuschung in sich festhalten zu können -- die Wahrheit siegt im- mer. Es ist ihr Prüfstein, daß sie siegen muß, und auch Jenny sträubte sich jetzt vergebens gegen ihre Gewalt.
Die Ueberzeugung, daß der Geist des Chri-
bei dieſen Zweifeln zu einer Lüge wurde? Ver- gebens wollte ſie die Vorſtellungen in ſich zu- rückrufen, die ihr vor wenig Stunden geläufig und klar geweſen waren; es gelang ihr nicht ebenſo wenig, als es dem Erwachſenen gelingt, jene Empfindung in ſich hervorzuzaubern, die wir als Kinder gewiß Alle gehabt haben, wenn wir im Wagen dahinfahrend wähnten, Bäume und Häuſer an uns vorüberfliegen zu ſehen, während wir ſtille ſtänden. Nachdem uns ein- mal das Gegentheil unumſtößlich bewieſen wor- den, kann ſelbſt unſer feſter Wille das Trug- bild nicht mehr erwecken. Einen Moment lang mag man hoffen, ſich gegen die Wahrheit ver- blenden, eine liebgewordene Täuſchung in ſich feſthalten zu können — die Wahrheit ſiegt im- mer. Es iſt ihr Prüfſtein, daß ſie ſiegen muß, und auch Jenny ſträubte ſich jetzt vergebens gegen ihre Gewalt.
Die Ueberzeugung, daß der Geiſt des Chri-
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0029"n="19"/>
bei dieſen Zweifeln zu einer Lüge wurde? Ver-<lb/>
gebens wollte ſie die Vorſtellungen in ſich zu-<lb/>
rückrufen, die ihr vor wenig Stunden geläufig<lb/>
und klar geweſen waren; es gelang ihr nicht<lb/>
ebenſo wenig, als es dem Erwachſenen gelingt,<lb/>
jene Empfindung in ſich hervorzuzaubern, die<lb/>
wir als Kinder gewiß Alle gehabt haben, wenn<lb/>
wir im Wagen dahinfahrend wähnten, Bäume<lb/>
und Häuſer an uns vorüberfliegen zu ſehen,<lb/>
während wir ſtille ſtänden. Nachdem uns ein-<lb/>
mal das Gegentheil unumſtößlich bewieſen wor-<lb/>
den, kann ſelbſt unſer feſter Wille das Trug-<lb/>
bild nicht mehr erwecken. Einen Moment lang<lb/>
mag man hoffen, ſich gegen die Wahrheit ver-<lb/>
blenden, eine liebgewordene Täuſchung in ſich<lb/>
feſthalten zu können — die Wahrheit ſiegt im-<lb/>
mer. Es iſt ihr Prüfſtein, daß ſie ſiegen muß,<lb/>
und auch Jenny ſträubte ſich jetzt vergebens<lb/>
gegen ihre Gewalt.</p><lb/><p>Die Ueberzeugung, daß der Geiſt des Chri-<lb/></p></div></body></text></TEI>
[19/0029]
bei dieſen Zweifeln zu einer Lüge wurde? Ver-
gebens wollte ſie die Vorſtellungen in ſich zu-
rückrufen, die ihr vor wenig Stunden geläufig
und klar geweſen waren; es gelang ihr nicht
ebenſo wenig, als es dem Erwachſenen gelingt,
jene Empfindung in ſich hervorzuzaubern, die
wir als Kinder gewiß Alle gehabt haben, wenn
wir im Wagen dahinfahrend wähnten, Bäume
und Häuſer an uns vorüberfliegen zu ſehen,
während wir ſtille ſtänden. Nachdem uns ein-
mal das Gegentheil unumſtößlich bewieſen wor-
den, kann ſelbſt unſer feſter Wille das Trug-
bild nicht mehr erwecken. Einen Moment lang
mag man hoffen, ſich gegen die Wahrheit ver-
blenden, eine liebgewordene Täuſchung in ſich
feſthalten zu können — die Wahrheit ſiegt im-
mer. Es iſt ihr Prüfſtein, daß ſie ſiegen muß,
und auch Jenny ſträubte ſich jetzt vergebens
gegen ihre Gewalt.
Die Ueberzeugung, daß der Geiſt des Chri-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Lewald, Fanny: Jenny. Bd. 2. Leipzig, 1843, S. 19. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lewald_jenny02_1843/29>, abgerufen am 03.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.