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Lewald, Fanny: Die Tante. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 14. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 69–193. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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Beileidsbesuche, man beklagte sie von Herzen. Auf mich und auf die Mutter brachte das einen entsetzlichen Eindruck hervor. Die Schwester erschien uns wie eine Geisteskranke, die man gewähren lassen muß. Indeß übten der Schmerz, den sie wirklich fühlte, und die Theilnahme, die ihr überall entgegenkam, einen ganz unerwarteten Einfluß auf Caroline aus. Sie kam sich abgefunden mit dem Leben und dadurch gleichsam versöhnt mit ihrem Schicksal vor. Sie sprach es aus, daß Niemand sich zu beklagen habe, dem einmal eine solche Liebe zu Theil geworden, sie pries sich glücklich, dieses höchste, einzige Gefühl gekannt zu haben, und das gab ihr eine Weiche, eine Offenheit, die sie förmlich verwandelten. Sie wurde ein vollständig anderes Wesen von dem Zeitpunkte ab. Die Stunde, welche mir den Geliebten meiner Jugend nahm, hatte mir in Carolinen eine Schwester, unserer Mutter eine Tochter wiedergegeben.

Leider aber sollte unsere arme Mutter das Glück dieser Wandlung nur sehr kurze Zeit genießen. Sie starb uns plötzlich, zu Anfang des September, und auch ich deckte denn nun die schwarze Trauerkleidung über meinen eingestandenen und meinen verschwiegenen, tiefen Kummer.

Meine Mutter war schon ein paar Wochen todt, als ich endlich nach langem, bangem Harren eine Antwort von meinem Manne auf den Brief erhielt, in dem ich ihm meine Neigung für Klemenz eingestanden

Beileidsbesuche, man beklagte sie von Herzen. Auf mich und auf die Mutter brachte das einen entsetzlichen Eindruck hervor. Die Schwester erschien uns wie eine Geisteskranke, die man gewähren lassen muß. Indeß übten der Schmerz, den sie wirklich fühlte, und die Theilnahme, die ihr überall entgegenkam, einen ganz unerwarteten Einfluß auf Caroline aus. Sie kam sich abgefunden mit dem Leben und dadurch gleichsam versöhnt mit ihrem Schicksal vor. Sie sprach es aus, daß Niemand sich zu beklagen habe, dem einmal eine solche Liebe zu Theil geworden, sie pries sich glücklich, dieses höchste, einzige Gefühl gekannt zu haben, und das gab ihr eine Weiche, eine Offenheit, die sie förmlich verwandelten. Sie wurde ein vollständig anderes Wesen von dem Zeitpunkte ab. Die Stunde, welche mir den Geliebten meiner Jugend nahm, hatte mir in Carolinen eine Schwester, unserer Mutter eine Tochter wiedergegeben.

Leider aber sollte unsere arme Mutter das Glück dieser Wandlung nur sehr kurze Zeit genießen. Sie starb uns plötzlich, zu Anfang des September, und auch ich deckte denn nun die schwarze Trauerkleidung über meinen eingestandenen und meinen verschwiegenen, tiefen Kummer.

Meine Mutter war schon ein paar Wochen todt, als ich endlich nach langem, bangem Harren eine Antwort von meinem Manne auf den Brief erhielt, in dem ich ihm meine Neigung für Klemenz eingestanden

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[0120] Beileidsbesuche, man beklagte sie von Herzen. Auf mich und auf die Mutter brachte das einen entsetzlichen Eindruck hervor. Die Schwester erschien uns wie eine Geisteskranke, die man gewähren lassen muß. Indeß übten der Schmerz, den sie wirklich fühlte, und die Theilnahme, die ihr überall entgegenkam, einen ganz unerwarteten Einfluß auf Caroline aus. Sie kam sich abgefunden mit dem Leben und dadurch gleichsam versöhnt mit ihrem Schicksal vor. Sie sprach es aus, daß Niemand sich zu beklagen habe, dem einmal eine solche Liebe zu Theil geworden, sie pries sich glücklich, dieses höchste, einzige Gefühl gekannt zu haben, und das gab ihr eine Weiche, eine Offenheit, die sie förmlich verwandelten. Sie wurde ein vollständig anderes Wesen von dem Zeitpunkte ab. Die Stunde, welche mir den Geliebten meiner Jugend nahm, hatte mir in Carolinen eine Schwester, unserer Mutter eine Tochter wiedergegeben. Leider aber sollte unsere arme Mutter das Glück dieser Wandlung nur sehr kurze Zeit genießen. Sie starb uns plötzlich, zu Anfang des September, und auch ich deckte denn nun die schwarze Trauerkleidung über meinen eingestandenen und meinen verschwiegenen, tiefen Kummer. Meine Mutter war schon ein paar Wochen todt, als ich endlich nach langem, bangem Harren eine Antwort von meinem Manne auf den Brief erhielt, in dem ich ihm meine Neigung für Klemenz eingestanden

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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T14:16:08Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T14:16:08Z)

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Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




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Zitationshilfe: Lewald, Fanny: Die Tante. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 14. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 69–193. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lewald_tante_1910/120>, abgerufen am 11.05.2024.