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Lewald, Fanny: Die Tante. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 14. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 69–193. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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Jedes Wort bohrte sich dem Vater langsam und schmerzlich wie ein stumpfer Dolchstoß in die Brust. Er hatte die vollste Zuversicht zu meiner Mutter, er hatte auch gegen Schlichting bis jetzt kein Mißtrauen gehegt, aber manche von den Männern und Frauen, mit denen meine Eltern Umgang pflogen, nahmen es mit der Ehe und der Treue nicht genau, und über Verirrungen des Herzens dachte man in jenen Tagen anders als in dieser Zeit. Denkbar war es freilich, daß unserer Mutter Herz noch immer dem Geliebten ihrer Jugend anhing, auffallend war es, daß Schlichting sich nicht verheirathete. Und wenn es wäre? wenn es wäre? dachte er. Ihm schwindelte das Gehirn. Er konnte den lauernden Blick der Großmutter nicht so auf sich ruhen fühlen. Daß sie, daß seine eigene Mutter ihm dies höchste Leid mit solcher Wollust anthat, zerriß ihm vollends das Herz. Sie stand wie ein böser Geist an seiner Seite.

Mit einem Male erhob er sich. Wohin gehst du? fragte die Großmutter, erschrocken über seine plötzliche Entfernung. Ich gehe mir Trost holen bei meiner Frau für das Leid, das Sie, das meine Mutter mir gethan hat, sagte er bewegt und kurz, und verließ die Stube.

Aber so fest und entschieden der Vater gehandelt hatte, so verstört sah es in seinem Innern aus. Er konnte seine Zweifel nicht verbannen und fühlte doch eine tiefe Scham, wenn er nur daran dachte, sie vor

Jedes Wort bohrte sich dem Vater langsam und schmerzlich wie ein stumpfer Dolchstoß in die Brust. Er hatte die vollste Zuversicht zu meiner Mutter, er hatte auch gegen Schlichting bis jetzt kein Mißtrauen gehegt, aber manche von den Männern und Frauen, mit denen meine Eltern Umgang pflogen, nahmen es mit der Ehe und der Treue nicht genau, und über Verirrungen des Herzens dachte man in jenen Tagen anders als in dieser Zeit. Denkbar war es freilich, daß unserer Mutter Herz noch immer dem Geliebten ihrer Jugend anhing, auffallend war es, daß Schlichting sich nicht verheirathete. Und wenn es wäre? wenn es wäre? dachte er. Ihm schwindelte das Gehirn. Er konnte den lauernden Blick der Großmutter nicht so auf sich ruhen fühlen. Daß sie, daß seine eigene Mutter ihm dies höchste Leid mit solcher Wollust anthat, zerriß ihm vollends das Herz. Sie stand wie ein böser Geist an seiner Seite.

Mit einem Male erhob er sich. Wohin gehst du? fragte die Großmutter, erschrocken über seine plötzliche Entfernung. Ich gehe mir Trost holen bei meiner Frau für das Leid, das Sie, das meine Mutter mir gethan hat, sagte er bewegt und kurz, und verließ die Stube.

Aber so fest und entschieden der Vater gehandelt hatte, so verstört sah es in seinem Innern aus. Er konnte seine Zweifel nicht verbannen und fühlte doch eine tiefe Scham, wenn er nur daran dachte, sie vor

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[0041] Jedes Wort bohrte sich dem Vater langsam und schmerzlich wie ein stumpfer Dolchstoß in die Brust. Er hatte die vollste Zuversicht zu meiner Mutter, er hatte auch gegen Schlichting bis jetzt kein Mißtrauen gehegt, aber manche von den Männern und Frauen, mit denen meine Eltern Umgang pflogen, nahmen es mit der Ehe und der Treue nicht genau, und über Verirrungen des Herzens dachte man in jenen Tagen anders als in dieser Zeit. Denkbar war es freilich, daß unserer Mutter Herz noch immer dem Geliebten ihrer Jugend anhing, auffallend war es, daß Schlichting sich nicht verheirathete. Und wenn es wäre? wenn es wäre? dachte er. Ihm schwindelte das Gehirn. Er konnte den lauernden Blick der Großmutter nicht so auf sich ruhen fühlen. Daß sie, daß seine eigene Mutter ihm dies höchste Leid mit solcher Wollust anthat, zerriß ihm vollends das Herz. Sie stand wie ein böser Geist an seiner Seite. Mit einem Male erhob er sich. Wohin gehst du? fragte die Großmutter, erschrocken über seine plötzliche Entfernung. Ich gehe mir Trost holen bei meiner Frau für das Leid, das Sie, das meine Mutter mir gethan hat, sagte er bewegt und kurz, und verließ die Stube. Aber so fest und entschieden der Vater gehandelt hatte, so verstört sah es in seinem Innern aus. Er konnte seine Zweifel nicht verbannen und fühlte doch eine tiefe Scham, wenn er nur daran dachte, sie vor

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Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T14:16:08Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T14:16:08Z)

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Zitationshilfe: Lewald, Fanny: Die Tante. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 14. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 69–193. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lewald_tante_1910/41>, abgerufen am 28.04.2024.