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Lewald, Fanny: Die Tante. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 14. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 69–193. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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Der Vater ging ihr nach. Wir schliefen Alle. Die Mutter stand vor unseren Betten und hatte die Hände gefaltet, die Thränen fielen ihr aus den Augen. Vor unserem Anblick, unserem sanften Schlafe, vor dem Anblick unserer weinenden Mutter löste sich die Starrheit auf, die ihm den ganzen Tag das Herz zusammengepreßt hatte. Er trat an die Mutter heran und nahm ihre Hand. Vergieb mir! sagte er, und in demselben Augenblicke hing die Mutter auch an seinem Halse, um sich an ihm auszuweinen. Er küßte sie, sie küßten auch uns Schlafende, dann führte er sie hinaus, uns nicht zu stören, und bat sie, des Vorgangs nun für ewig zu vergessen.

Aber die Mutter konnte nicht davon schweigen, bis Alles klar war zwischen ihnen und die Rückkehr solchen Zweifels nicht mehr möglich. Sie hielt ihm ihr beiderseitiges ganzes Leben vor, die ruhige, liebevolle Neigung, die zwischen ihnen aufgewachsen war, sie erinnerte ihn an Alles, was sie mit einander durchgemacht, an Alles, was sie einander geworden waren, und sie fragte ihn dann, ob er noch glauben könne, sie habe sich einem Andern zugewendet, einem Manne, dem er selbst sein Haus geöffnet? Es war dabei von keiner Leidenschaft die Rede, sondern sie hielt sich an das einfache Empfinden, das Eheleute nach so langen Jahren aneinanderkettet, und sie verlangte auch nichts von ihm, als Glauben an ihre Wahrheit und Rechtlichkeit. Den konnte und mußte er haben, und so wurde die Ver-

Der Vater ging ihr nach. Wir schliefen Alle. Die Mutter stand vor unseren Betten und hatte die Hände gefaltet, die Thränen fielen ihr aus den Augen. Vor unserem Anblick, unserem sanften Schlafe, vor dem Anblick unserer weinenden Mutter löste sich die Starrheit auf, die ihm den ganzen Tag das Herz zusammengepreßt hatte. Er trat an die Mutter heran und nahm ihre Hand. Vergieb mir! sagte er, und in demselben Augenblicke hing die Mutter auch an seinem Halse, um sich an ihm auszuweinen. Er küßte sie, sie küßten auch uns Schlafende, dann führte er sie hinaus, uns nicht zu stören, und bat sie, des Vorgangs nun für ewig zu vergessen.

Aber die Mutter konnte nicht davon schweigen, bis Alles klar war zwischen ihnen und die Rückkehr solchen Zweifels nicht mehr möglich. Sie hielt ihm ihr beiderseitiges ganzes Leben vor, die ruhige, liebevolle Neigung, die zwischen ihnen aufgewachsen war, sie erinnerte ihn an Alles, was sie mit einander durchgemacht, an Alles, was sie einander geworden waren, und sie fragte ihn dann, ob er noch glauben könne, sie habe sich einem Andern zugewendet, einem Manne, dem er selbst sein Haus geöffnet? Es war dabei von keiner Leidenschaft die Rede, sondern sie hielt sich an das einfache Empfinden, das Eheleute nach so langen Jahren aneinanderkettet, und sie verlangte auch nichts von ihm, als Glauben an ihre Wahrheit und Rechtlichkeit. Den konnte und mußte er haben, und so wurde die Ver-

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[0046] Der Vater ging ihr nach. Wir schliefen Alle. Die Mutter stand vor unseren Betten und hatte die Hände gefaltet, die Thränen fielen ihr aus den Augen. Vor unserem Anblick, unserem sanften Schlafe, vor dem Anblick unserer weinenden Mutter löste sich die Starrheit auf, die ihm den ganzen Tag das Herz zusammengepreßt hatte. Er trat an die Mutter heran und nahm ihre Hand. Vergieb mir! sagte er, und in demselben Augenblicke hing die Mutter auch an seinem Halse, um sich an ihm auszuweinen. Er küßte sie, sie küßten auch uns Schlafende, dann führte er sie hinaus, uns nicht zu stören, und bat sie, des Vorgangs nun für ewig zu vergessen. Aber die Mutter konnte nicht davon schweigen, bis Alles klar war zwischen ihnen und die Rückkehr solchen Zweifels nicht mehr möglich. Sie hielt ihm ihr beiderseitiges ganzes Leben vor, die ruhige, liebevolle Neigung, die zwischen ihnen aufgewachsen war, sie erinnerte ihn an Alles, was sie mit einander durchgemacht, an Alles, was sie einander geworden waren, und sie fragte ihn dann, ob er noch glauben könne, sie habe sich einem Andern zugewendet, einem Manne, dem er selbst sein Haus geöffnet? Es war dabei von keiner Leidenschaft die Rede, sondern sie hielt sich an das einfache Empfinden, das Eheleute nach so langen Jahren aneinanderkettet, und sie verlangte auch nichts von ihm, als Glauben an ihre Wahrheit und Rechtlichkeit. Den konnte und mußte er haben, und so wurde die Ver-

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Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T14:16:08Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T14:16:08Z)

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Zitationshilfe: Lewald, Fanny: Die Tante. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 14. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 69–193. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lewald_tante_1910/46>, abgerufen am 27.04.2024.