Lewald, Fanny: Die Tante. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 14. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 69–193. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Ursache ihrer Thränen, um des Onkels Entfernung zu befragen. Ich wußte selbst nicht, was ich dachte, oder weßhalb sie mir so leid that, aber ich fiel ihr um den Hals und küßte sie. Sie schloß mich mit großer Zärtlichkeit an ihre Brust, küßte mich auch mehrmals und ich fühlte ihre warmen Thränen auf meiner Stirne. Indeß sie ließ mich schnell wieder los, und indem sie mich streichelte, sagte sie: Du bist ein gutes, gutes Kind! Nun sei aber still, Julie, und gehe nachsehen, ob die Schwestern fertig sind. -- Damit trat sie an den Spiegel, netzte ein Tuch mit Wasser, ihre Augen zu kühlen, und von dem ganzen Vorgang war nicht mehr die Rede. Erst als ich lange schon verheirathet und meine Mutter todt war, habe ich erfahren, was an dem Abend geschehen, und wie meine Mutter ihre Zukunft und ihr Verhältniß zu dem Onkel ein für allemal festgestellt, indem sie es ausgeschlagen, seine Frau zu werden. Auf ihre Ehe mit meinem Vater durch diese zweite Heirath einen Schatten zu werfen, Trost und Freude in einer neuen Ehe zu suchen, während ihre älteste Tochter eine unglückliche Liebe zu bekämpfen hatte, sich als Neuvermählte neben meine Schwester Antonie zu stellen, die selber Braut war, das widerstand ihr Alles, und der Onkel wußte ihr Empfinden zu würdigen und zu ehren. Die Mutter hat seit meines Vaters Tode nur für uns gelebt und ganz allein unser Dasein in schicklichster Weise aufrecht erhalten, bis im Jahre eilf Ursache ihrer Thränen, um des Onkels Entfernung zu befragen. Ich wußte selbst nicht, was ich dachte, oder weßhalb sie mir so leid that, aber ich fiel ihr um den Hals und küßte sie. Sie schloß mich mit großer Zärtlichkeit an ihre Brust, küßte mich auch mehrmals und ich fühlte ihre warmen Thränen auf meiner Stirne. Indeß sie ließ mich schnell wieder los, und indem sie mich streichelte, sagte sie: Du bist ein gutes, gutes Kind! Nun sei aber still, Julie, und gehe nachsehen, ob die Schwestern fertig sind. — Damit trat sie an den Spiegel, netzte ein Tuch mit Wasser, ihre Augen zu kühlen, und von dem ganzen Vorgang war nicht mehr die Rede. Erst als ich lange schon verheirathet und meine Mutter todt war, habe ich erfahren, was an dem Abend geschehen, und wie meine Mutter ihre Zukunft und ihr Verhältniß zu dem Onkel ein für allemal festgestellt, indem sie es ausgeschlagen, seine Frau zu werden. Auf ihre Ehe mit meinem Vater durch diese zweite Heirath einen Schatten zu werfen, Trost und Freude in einer neuen Ehe zu suchen, während ihre älteste Tochter eine unglückliche Liebe zu bekämpfen hatte, sich als Neuvermählte neben meine Schwester Antonie zu stellen, die selber Braut war, das widerstand ihr Alles, und der Onkel wußte ihr Empfinden zu würdigen und zu ehren. Die Mutter hat seit meines Vaters Tode nur für uns gelebt und ganz allein unser Dasein in schicklichster Weise aufrecht erhalten, bis im Jahre eilf <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div type="diaryEntry" n="2"> <p><pb facs="#f0057"/> Ursache ihrer Thränen, um des Onkels Entfernung zu befragen. Ich wußte selbst nicht, was ich dachte, oder weßhalb sie mir so leid that, aber ich fiel ihr um den Hals und küßte sie. Sie schloß mich mit großer Zärtlichkeit an ihre Brust, küßte mich auch mehrmals und ich fühlte ihre warmen Thränen auf meiner Stirne. Indeß sie ließ mich schnell wieder los, und indem sie mich streichelte, sagte sie: Du bist ein gutes, gutes Kind! Nun sei aber still, Julie, und gehe nachsehen, ob die Schwestern fertig sind. — Damit trat sie an den Spiegel, netzte ein Tuch mit Wasser, ihre Augen zu kühlen, und von dem ganzen Vorgang war nicht mehr die Rede. Erst als ich lange schon verheirathet und meine Mutter todt war, habe ich erfahren, was an dem Abend geschehen, und wie meine Mutter ihre Zukunft und ihr Verhältniß zu dem Onkel ein für allemal festgestellt, indem sie es ausgeschlagen, seine Frau zu werden. Auf ihre Ehe mit meinem Vater durch diese zweite Heirath einen Schatten zu werfen, Trost und Freude in einer neuen Ehe zu suchen, während ihre älteste Tochter eine unglückliche Liebe zu bekämpfen hatte, sich als Neuvermählte neben meine Schwester Antonie zu stellen, die selber Braut war, das widerstand ihr Alles, und der Onkel wußte ihr Empfinden zu würdigen und zu ehren.</p><lb/> <p>Die Mutter hat seit meines Vaters Tode nur für uns gelebt und ganz allein unser Dasein in schicklichster Weise aufrecht erhalten, bis im Jahre eilf<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0057]
Ursache ihrer Thränen, um des Onkels Entfernung zu befragen. Ich wußte selbst nicht, was ich dachte, oder weßhalb sie mir so leid that, aber ich fiel ihr um den Hals und küßte sie. Sie schloß mich mit großer Zärtlichkeit an ihre Brust, küßte mich auch mehrmals und ich fühlte ihre warmen Thränen auf meiner Stirne. Indeß sie ließ mich schnell wieder los, und indem sie mich streichelte, sagte sie: Du bist ein gutes, gutes Kind! Nun sei aber still, Julie, und gehe nachsehen, ob die Schwestern fertig sind. — Damit trat sie an den Spiegel, netzte ein Tuch mit Wasser, ihre Augen zu kühlen, und von dem ganzen Vorgang war nicht mehr die Rede. Erst als ich lange schon verheirathet und meine Mutter todt war, habe ich erfahren, was an dem Abend geschehen, und wie meine Mutter ihre Zukunft und ihr Verhältniß zu dem Onkel ein für allemal festgestellt, indem sie es ausgeschlagen, seine Frau zu werden. Auf ihre Ehe mit meinem Vater durch diese zweite Heirath einen Schatten zu werfen, Trost und Freude in einer neuen Ehe zu suchen, während ihre älteste Tochter eine unglückliche Liebe zu bekämpfen hatte, sich als Neuvermählte neben meine Schwester Antonie zu stellen, die selber Braut war, das widerstand ihr Alles, und der Onkel wußte ihr Empfinden zu würdigen und zu ehren.
Die Mutter hat seit meines Vaters Tode nur für uns gelebt und ganz allein unser Dasein in schicklichster Weise aufrecht erhalten, bis im Jahre eilf
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription.
(2017-03-15T14:16:08Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2017-03-15T14:16:08Z)
Weitere Informationen:Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |