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Lewald, Fanny: Die Tante. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 14. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 69–193. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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Um so mehr dachte ich an ihn, aber ich wußte nicht, daß er es war, dessen Abwesenheit mich beunruhigte, dessen Anwesenheit ich ersehnte. Weil der Lauf der Posten damals langsam und obenein nicht sicher war, hatte Schlichting seine Briefe an uns stets durch die Couriere gesendet, die unaufhörlich zwischen Breslau und Berlin beschäftigt waren, und alle Nachrichten hatte ich durch Klemenz erhalten, der dieselben im Bureau des Ministeriums für uns in Empfang zu nehmen und uns zu bringen pflegte. So konnte es denn geschehen, daß ich in dem Glauben, mit Ungeduld die Briefe meines Mannes zu erwarten, mich nur nach Klemenz sehnte, von dem ich sie erhielt, und daß meine Freude, ihn zu sehen, von meiner Mutter auf die Nachrichten von Schlichting bezogen wurde. Die Aufregung und die Zerstreuung, in welcher sich Alle bewegten, waren ohnehin dazu geeignet, über die Empfindungen zu täuschen, die der Einzelne in seinem Innern hegte; wenigstens waren ich und meine Mutter Beide überzeugt, daß meine Anhänglichkeit für Schlichting durch die Entfernung gewachsen sei, und daß mir, wenn Gott ihm die Rückkehr vergönne, trotz der Verschiedenheit unseres Alters eine glückliche Ehe bevorstehe.

Je mehr meine Mutter dies wünschte, je eifriger und zuversichtlicher sie mir davon sprach, um so fester glaubte ich es selbst, und da ich, so oft von meinem wunderbaren und glücklichen Loose die Rede war, an

Um so mehr dachte ich an ihn, aber ich wußte nicht, daß er es war, dessen Abwesenheit mich beunruhigte, dessen Anwesenheit ich ersehnte. Weil der Lauf der Posten damals langsam und obenein nicht sicher war, hatte Schlichting seine Briefe an uns stets durch die Couriere gesendet, die unaufhörlich zwischen Breslau und Berlin beschäftigt waren, und alle Nachrichten hatte ich durch Klemenz erhalten, der dieselben im Bureau des Ministeriums für uns in Empfang zu nehmen und uns zu bringen pflegte. So konnte es denn geschehen, daß ich in dem Glauben, mit Ungeduld die Briefe meines Mannes zu erwarten, mich nur nach Klemenz sehnte, von dem ich sie erhielt, und daß meine Freude, ihn zu sehen, von meiner Mutter auf die Nachrichten von Schlichting bezogen wurde. Die Aufregung und die Zerstreuung, in welcher sich Alle bewegten, waren ohnehin dazu geeignet, über die Empfindungen zu täuschen, die der Einzelne in seinem Innern hegte; wenigstens waren ich und meine Mutter Beide überzeugt, daß meine Anhänglichkeit für Schlichting durch die Entfernung gewachsen sei, und daß mir, wenn Gott ihm die Rückkehr vergönne, trotz der Verschiedenheit unseres Alters eine glückliche Ehe bevorstehe.

Je mehr meine Mutter dies wünschte, je eifriger und zuversichtlicher sie mir davon sprach, um so fester glaubte ich es selbst, und da ich, so oft von meinem wunderbaren und glücklichen Loose die Rede war, an

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[0079] Um so mehr dachte ich an ihn, aber ich wußte nicht, daß er es war, dessen Abwesenheit mich beunruhigte, dessen Anwesenheit ich ersehnte. Weil der Lauf der Posten damals langsam und obenein nicht sicher war, hatte Schlichting seine Briefe an uns stets durch die Couriere gesendet, die unaufhörlich zwischen Breslau und Berlin beschäftigt waren, und alle Nachrichten hatte ich durch Klemenz erhalten, der dieselben im Bureau des Ministeriums für uns in Empfang zu nehmen und uns zu bringen pflegte. So konnte es denn geschehen, daß ich in dem Glauben, mit Ungeduld die Briefe meines Mannes zu erwarten, mich nur nach Klemenz sehnte, von dem ich sie erhielt, und daß meine Freude, ihn zu sehen, von meiner Mutter auf die Nachrichten von Schlichting bezogen wurde. Die Aufregung und die Zerstreuung, in welcher sich Alle bewegten, waren ohnehin dazu geeignet, über die Empfindungen zu täuschen, die der Einzelne in seinem Innern hegte; wenigstens waren ich und meine Mutter Beide überzeugt, daß meine Anhänglichkeit für Schlichting durch die Entfernung gewachsen sei, und daß mir, wenn Gott ihm die Rückkehr vergönne, trotz der Verschiedenheit unseres Alters eine glückliche Ehe bevorstehe. Je mehr meine Mutter dies wünschte, je eifriger und zuversichtlicher sie mir davon sprach, um so fester glaubte ich es selbst, und da ich, so oft von meinem wunderbaren und glücklichen Loose die Rede war, an

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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T14:16:08Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T14:16:08Z)

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Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




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Zitationshilfe: Lewald, Fanny: Die Tante. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 14. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 69–193. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lewald_tante_1910/79>, abgerufen am 12.05.2024.