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Liebknecht, Wilhelm: Zur orientalischen Frage oder Soll Europa kosakisch werden? 2. Aufl. Leipzig, 1878.

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Stunde aus der Noth eine Tugend machen, und sich mit den "morali-
schen Eroberungen" seiner Humanitäts- und Civilisationskampagne be-
gnügen -- was kaum zu erwarten ist. An ein Zurückweichen Eng-
lands,
das erst nach langem Zaudern in die Aktion eintrat und sich
im Besitz der den Erfolg verbürgenden Machtmittel weiß, läßt sich
kaum denken.

Daß aber, wenn einmal der Zauber gebrochen und von irgend
einer Seite die Jnitiative gegen Rußland ergriffen ist, Oesterreich und
Frankreich auf die Dauer nicht neutral bleiben können, und daß dann
die eigenthümliche Neutralitätspolitik des Fürsten Bismarck unhaltbar,
und vor die Alternative des Bruchs (wenn auch nicht zum Krieg)
mit Rußland, oder eines offenen Schutz- und Trutzbünd-
nisses
mit Rußland gestellt wird, das haben wir in früheren Artikeln
des Näheren ausgeführt.

Es fragt sich nun, soll das deutsche Volk ruhig die Hände in den
Schooß legen, und, vertrauend auf die staatsmännische Weisheit und
"bewährte Friedensliebe des Fürsten Bismarck" (Bennigsen'sche
Theaterphrase!), mit untertürkischem Fatalismus die Entscheidung von
Oben erwarten?

Oder soll es sich aufraffen und, so weit es in seiner Macht steht,
das Selbstbestimmungsrecht ausüben, seines Schicksals Schmied werden?

Der preußische Landtag -- die kleinen deutschen Landtage kommen
hier nicht in Betracht -- ist einer Besprechung der kritischen Weltlage,
der kritischen Lage Deutschlands feige aus dem Wege gegangen. Von
der Majorität des Reichstages, der in etwa Monatsfrist sich ver-
sammeln wird, ist nichts besseres zu erwarten. Allein in dem Reichs-
tage sitzen Abgeordnete unserer Partei, welche sich weder durch den
Terrorismus der Majorität, noch durch die Fallstricke und Schlingen
der Geschäftsordnung von der Erfüllung ihrer Pflicht abhalten lassen,
und einen nachdrücklichen Versuch machen werden, Aufschlüsse über die Poli-
tik des Fürsten Reichskanzlers zu erlangen, und durch einen Appell an
die Oeffentlichkeit womöglich das Unheil und die Schmach eines Krieges
an der Seite Rußlands und für Rußland von unserem Vaterlande
abzuwenden. Soll aber die Stimme der socialdemokratischen Abgeord-
neten nicht ungehört, nicht wirkungslos verhallen, so müssen sie im
Namen und Auftrage des Volkes reden können. Jhre Wähler
stehen zwar hinter ihnen, doch das genügt für diesen Fall nicht. Unsere
Reichstags-Abgeordneten müssen der Reichstags-Majorität gegenüber
auf das Volk verweisen, sich auf das Volk stützen können. Sie
müssen das Recht haben, zu erklären, daß nicht bloß die 600,000
socialistischen Wähler, sondern das Volk überhaupt, soweit es
nicht aus Junkern, Gardeoffizieren und "vaterlandslosen" Bourgeois

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Stunde aus der Noth eine Tugend machen, und ſich mit den „morali-
ſchen Eroberungen‟ ſeiner Humanitäts- und Civiliſationskampagne be-
gnügen — was kaum zu erwarten iſt. An ein Zurückweichen Eng-
lands,
das erſt nach langem Zaudern in die Aktion eintrat und ſich
im Beſitz der den Erfolg verbürgenden Machtmittel weiß, läßt ſich
kaum denken.

Daß aber, wenn einmal der Zauber gebrochen und von irgend
einer Seite die Jnitiative gegen Rußland ergriffen iſt, Oeſterreich und
Frankreich auf die Dauer nicht neutral bleiben können, und daß dann
die eigenthümliche Neutralitätspolitik des Fürſten Bismarck unhaltbar,
und vor die Alternative des Bruchs (wenn auch nicht zum Krieg)
mit Rußland, oder eines offenen Schutz- und Trutzbünd-
niſſes
mit Rußland geſtellt wird, das haben wir in früheren Artikeln
des Näheren ausgeführt.

Es fragt ſich nun, ſoll das deutſche Volk ruhig die Hände in den
Schooß legen, und, vertrauend auf die ſtaatsmänniſche Weisheit und
„bewährte Friedensliebe des Fürſten Bismarck‟ (Bennigſen’ſche
Theaterphraſe!), mit untertürkiſchem Fatalismus die Entſcheidung von
Oben erwarten?

Oder ſoll es ſich aufraffen und, ſo weit es in ſeiner Macht ſteht,
das Selbſtbeſtimmungsrecht ausüben, ſeines Schickſals Schmied werden?

Der preußiſche Landtag — die kleinen deutſchen Landtage kommen
hier nicht in Betracht — iſt einer Beſprechung der kritiſchen Weltlage,
der kritiſchen Lage Deutſchlands feige aus dem Wege gegangen. Von
der Majorität des Reichstages, der in etwa Monatsfriſt ſich ver-
ſammeln wird, iſt nichts beſſeres zu erwarten. Allein in dem Reichs-
tage ſitzen Abgeordnete unſerer Partei, welche ſich weder durch den
Terrorismus der Majorität, noch durch die Fallſtricke und Schlingen
der Geſchäftsordnung von der Erfüllung ihrer Pflicht abhalten laſſen,
und einen nachdrücklichen Verſuch machen werden, Aufſchlüſſe über die Poli-
tik des Fürſten Reichskanzlers zu erlangen, und durch einen Appell an
die Oeffentlichkeit womöglich das Unheil und die Schmach eines Krieges
an der Seite Rußlands und für Rußland von unſerem Vaterlande
abzuwenden. Soll aber die Stimme der ſocialdemokratiſchen Abgeord-
neten nicht ungehört, nicht wirkungslos verhallen, ſo müſſen ſie im
Namen und Auftrage des Volkes reden können. Jhre Wähler
ſtehen zwar hinter ihnen, doch das genügt für dieſen Fall nicht. Unſere
Reichstags-Abgeordneten müſſen der Reichstags-Majorität gegenüber
auf das Volk verweiſen, ſich auf das Volk ſtützen können. Sie
müſſen das Recht haben, zu erklären, daß nicht bloß die 600,000
ſocialiſtiſchen Wähler, ſondern das Volk überhaupt, ſoweit es
nicht aus Junkern, Gardeoffizieren und „vaterlandsloſen‟ Bourgeois

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[35/0039] Stunde aus der Noth eine Tugend machen, und ſich mit den „morali- ſchen Eroberungen‟ ſeiner Humanitäts- und Civiliſationskampagne be- gnügen — was kaum zu erwarten iſt. An ein Zurückweichen Eng- lands, das erſt nach langem Zaudern in die Aktion eintrat und ſich im Beſitz der den Erfolg verbürgenden Machtmittel weiß, läßt ſich kaum denken. Daß aber, wenn einmal der Zauber gebrochen und von irgend einer Seite die Jnitiative gegen Rußland ergriffen iſt, Oeſterreich und Frankreich auf die Dauer nicht neutral bleiben können, und daß dann die eigenthümliche Neutralitätspolitik des Fürſten Bismarck unhaltbar, und vor die Alternative des Bruchs (wenn auch nicht zum Krieg) mit Rußland, oder eines offenen Schutz- und Trutzbünd- niſſes mit Rußland geſtellt wird, das haben wir in früheren Artikeln des Näheren ausgeführt. Es fragt ſich nun, ſoll das deutſche Volk ruhig die Hände in den Schooß legen, und, vertrauend auf die ſtaatsmänniſche Weisheit und „bewährte Friedensliebe des Fürſten Bismarck‟ (Bennigſen’ſche Theaterphraſe!), mit untertürkiſchem Fatalismus die Entſcheidung von Oben erwarten? Oder ſoll es ſich aufraffen und, ſo weit es in ſeiner Macht ſteht, das Selbſtbeſtimmungsrecht ausüben, ſeines Schickſals Schmied werden? Der preußiſche Landtag — die kleinen deutſchen Landtage kommen hier nicht in Betracht — iſt einer Beſprechung der kritiſchen Weltlage, der kritiſchen Lage Deutſchlands feige aus dem Wege gegangen. Von der Majorität des Reichstages, der in etwa Monatsfriſt ſich ver- ſammeln wird, iſt nichts beſſeres zu erwarten. Allein in dem Reichs- tage ſitzen Abgeordnete unſerer Partei, welche ſich weder durch den Terrorismus der Majorität, noch durch die Fallſtricke und Schlingen der Geſchäftsordnung von der Erfüllung ihrer Pflicht abhalten laſſen, und einen nachdrücklichen Verſuch machen werden, Aufſchlüſſe über die Poli- tik des Fürſten Reichskanzlers zu erlangen, und durch einen Appell an die Oeffentlichkeit womöglich das Unheil und die Schmach eines Krieges an der Seite Rußlands und für Rußland von unſerem Vaterlande abzuwenden. Soll aber die Stimme der ſocialdemokratiſchen Abgeord- neten nicht ungehört, nicht wirkungslos verhallen, ſo müſſen ſie im Namen und Auftrage des Volkes reden können. Jhre Wähler ſtehen zwar hinter ihnen, doch das genügt für dieſen Fall nicht. Unſere Reichstags-Abgeordneten müſſen der Reichstags-Majorität gegenüber auf das Volk verweiſen, ſich auf das Volk ſtützen können. Sie müſſen das Recht haben, zu erklären, daß nicht bloß die 600,000 ſocialiſtiſchen Wähler, ſondern das Volk überhaupt, ſoweit es nicht aus Junkern, Gardeoffizieren und „vaterlandsloſen‟ Bourgeois 3 *

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Zitationshilfe: Liebknecht, Wilhelm: Zur orientalischen Frage oder Soll Europa kosakisch werden? 2. Aufl. Leipzig, 1878, S. 35. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liebknecht_frage_1878/39>, abgerufen am 21.11.2024.