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Liebknecht, Wilhelm: Zur orientalischen Frage oder Soll Europa kosakisch werden? 2. Aufl. Leipzig, 1878.

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feindliche Spitze abzubrechen, von den "Reichs freunden" inscenirt
worden*) -- aber Fürst Bismarck war etwas zu zärtlich -- he has
overdone it,
würden die Engländer sagen -- und "allzuviel ist unge-
sund" für Staatskanzler und Staaten so gut wie für einfache Sterb-
liche. Die Folge der Bismarck'schen Liebesküsse war, daß die
östreichische Regierung, die Miene gemacht hatte, den Russen ein Halt
zuzurufen, wieder einmal den Rückzug antrat und am 24. Februar,
genau 30 Jahre nach dem Sturze des Julithrons -- ein ominöses
Datum -- in feierlichem Kronrath den Beschluß faßte, von dem Reichs-
rath einen Credit von 60 Millionen Gulden zu "diplomatischer Kriegs-
bereitschaft" zu fordern.

Das heißt: Oestreich behält vorläufig das Schwert in der
Scheide und will auf die Conferenz gehen oder den Con-
greß,
-- wir wissen nicht, wie's heißt, der diplomatische Wechselbalg
ist noch nicht getauft.

Falls das höchst fragliche Ding überhaupt ins Leben tritt.

Mittlerweile erhitzt sich die "öffentliche Meinung" in England.
Was ich in den vorstehend abgedruckten Artikeln über die englische
"Friedensbewegung" gesagt, hat sich seitdem im vollsten Maaße be-
wahrheitet. Die Gladstone und Consorten sind von der "Bildfläche"
verschwunden, und die russischen Agenten im Friedensschaafspelz dürfen
sich nicht mehr öffentlich zeigen, -- sie müßten denn Lust haben, die
Fäuste des Volksrichters "Lynch" kennen zu lernen.

Jn Oestreich dämmert mehr und mehr das Bewußtsein auf,
daß die Türkei die Vormauer Oesterreichs war, und daß die Zerstörung
dieser Mauer ein richtiger "Stoß ins Herz" ist.

Stünde in Oestreich ein Mann am Staatsruder, ein Mann, fähig
zu denken, fähig zu handeln, fähig der Jnitiative -- es
wäre ein Kinderspiel, den nordischen Alp, sammt dessen vaxzin-ber-
linischem Anhängsel abzuschütteln und die Frage: Soll Europa kosakisch
werden? mit einem durchschlagenden, welterlösenden Nein! zu beant-
worten.

Freilich, die schon vor fast 60 Jahren gestellte Alternative lautet:
Kosakisch oder republikanisch. Jn die Sprache der Gegenwart über-
setzt: Kosakisch oder sozialdemokratisch.

Und können wir von Staatsmännern der alten Schule verlangen,
daß sie sich für das "republikanisch" und "sozialdemo-
kratische
" entscheiden?

*) Siehe die in demselben Verlag erscheinende Broschüre: Die Orient-
debatte im deutschen Reichstag
(vollständig nach dem amtlich steno-
graphischen Bericht), kurz beleuchtet von W. Liebknecht.

feindliche Spitze abzubrechen, von den „Reichs freunden‟ inſcenirt
worden*)aber Fürſt Bismarck war etwas zu zärtlich — he has
overdone it,
würden die Engländer ſagen — und „allzuviel iſt unge-
ſund‟ für Staatskanzler und Staaten ſo gut wie für einfache Sterb-
liche. Die Folge der Bismarck’ſchen Liebesküſſe war, daß die
öſtreichiſche Regierung, die Miene gemacht hatte, den Ruſſen ein Halt
zuzurufen, wieder einmal den Rückzug antrat und am 24. Februar,
genau 30 Jahre nach dem Sturze des Julithrons — ein ominöſes
Datum — in feierlichem Kronrath den Beſchluß faßte, von dem Reichs-
rath einen Credit von 60 Millionen Gulden zu „diplomatiſcher Kriegs-
bereitſchaft‟ zu fordern.

Das heißt: Oeſtreich behält vorläufig das Schwert in der
Scheide und will auf die Conferenz gehen oder den Con-
greß,
— wir wiſſen nicht, wie’s heißt, der diplomatiſche Wechſelbalg
iſt noch nicht getauft.

Falls das höchſt fragliche Ding überhaupt ins Leben tritt.

Mittlerweile erhitzt ſich die „öffentliche Meinung‟ in England.
Was ich in den vorſtehend abgedruckten Artikeln über die engliſche
„Friedensbewegung‟ geſagt, hat ſich ſeitdem im vollſten Maaße be-
wahrheitet. Die Gladſtone und Conſorten ſind von der „Bildfläche‟
verſchwunden, und die ruſſiſchen Agenten im Friedensſchaafspelz dürfen
ſich nicht mehr öffentlich zeigen, — ſie müßten denn Luſt haben, die
Fäuſte des Volksrichters „Lynch‟ kennen zu lernen.

Jn Oeſtreich dämmert mehr und mehr das Bewußtſein auf,
daß die Türkei die Vormauer Oeſterreichs war, und daß die Zerſtörung
dieſer Mauer ein richtiger „Stoß ins Herz‟ iſt.

Stünde in Oeſtreich ein Mann am Staatsruder, ein Mann, fähig
zu denken, fähig zu handeln, fähig der Jnitiative — es
wäre ein Kinderſpiel, den nordiſchen Alp, ſammt deſſen vaxzin-ber-
liniſchem Anhängſel abzuſchütteln und die Frage: Soll Europa koſakiſch
werden? mit einem durchſchlagenden, welterlöſenden Nein! zu beant-
worten.

Freilich, die ſchon vor faſt 60 Jahren geſtellte Alternative lautet:
Koſakiſch oder republikaniſch. Jn die Sprache der Gegenwart über-
ſetzt: Koſakiſch oder ſozialdemokratiſch.

Und können wir von Staatsmännern der alten Schule verlangen,
daß ſie ſich für das „republikaniſch‟ und „ſozialdemo-
kratiſche
‟ entſcheiden?

*) Siehe die in demſelben Verlag erſcheinende Broſchüre: Die Orient-
debatte im deutſchen Reichstag
(vollſtändig nach dem amtlich ſteno-
graphiſchen Bericht), kurz beleuchtet von W. Liebknecht.
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[48/0052] feindliche Spitze abzubrechen, von den „Reichs freunden‟ inſcenirt worden *) — aber Fürſt Bismarck war etwas zu zärtlich — he has overdone it, würden die Engländer ſagen — und „allzuviel iſt unge- ſund‟ für Staatskanzler und Staaten ſo gut wie für einfache Sterb- liche. Die Folge der Bismarck’ſchen Liebesküſſe war, daß die öſtreichiſche Regierung, die Miene gemacht hatte, den Ruſſen ein Halt zuzurufen, wieder einmal den Rückzug antrat und am 24. Februar, genau 30 Jahre nach dem Sturze des Julithrons — ein ominöſes Datum — in feierlichem Kronrath den Beſchluß faßte, von dem Reichs- rath einen Credit von 60 Millionen Gulden zu „diplomatiſcher Kriegs- bereitſchaft‟ zu fordern. Das heißt: Oeſtreich behält vorläufig das Schwert in der Scheide und will auf die Conferenz gehen oder den Con- greß, — wir wiſſen nicht, wie’s heißt, der diplomatiſche Wechſelbalg iſt noch nicht getauft. Falls das höchſt fragliche Ding überhaupt ins Leben tritt. Mittlerweile erhitzt ſich die „öffentliche Meinung‟ in England. Was ich in den vorſtehend abgedruckten Artikeln über die engliſche „Friedensbewegung‟ geſagt, hat ſich ſeitdem im vollſten Maaße be- wahrheitet. Die Gladſtone und Conſorten ſind von der „Bildfläche‟ verſchwunden, und die ruſſiſchen Agenten im Friedensſchaafspelz dürfen ſich nicht mehr öffentlich zeigen, — ſie müßten denn Luſt haben, die Fäuſte des Volksrichters „Lynch‟ kennen zu lernen. Jn Oeſtreich dämmert mehr und mehr das Bewußtſein auf, daß die Türkei die Vormauer Oeſterreichs war, und daß die Zerſtörung dieſer Mauer ein richtiger „Stoß ins Herz‟ iſt. Stünde in Oeſtreich ein Mann am Staatsruder, ein Mann, fähig zu denken, fähig zu handeln, fähig der Jnitiative — es wäre ein Kinderſpiel, den nordiſchen Alp, ſammt deſſen vaxzin-ber- liniſchem Anhängſel abzuſchütteln und die Frage: Soll Europa koſakiſch werden? mit einem durchſchlagenden, welterlöſenden Nein! zu beant- worten. Freilich, die ſchon vor faſt 60 Jahren geſtellte Alternative lautet: Koſakiſch oder republikaniſch. Jn die Sprache der Gegenwart über- ſetzt: Koſakiſch oder ſozialdemokratiſch. Und können wir von Staatsmännern der alten Schule verlangen, daß ſie ſich für das „republikaniſch‟ und „ſozialdemo- kratiſche‟ entſcheiden? *) Siehe die in demſelben Verlag erſcheinende Broſchüre: Die Orient- debatte im deutſchen Reichstag (vollſtändig nach dem amtlich ſteno- graphiſchen Bericht), kurz beleuchtet von W. Liebknecht.

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Zitationshilfe: Liebknecht, Wilhelm: Zur orientalischen Frage oder Soll Europa kosakisch werden? 2. Aufl. Leipzig, 1878, S. 48. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liebknecht_frage_1878/52>, abgerufen am 23.11.2024.