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Liebknecht, Wilhelm: Zur orientalischen Frage oder Soll Europa kosakisch werden? 2. Aufl. Leipzig, 1878.

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und Freiheitsliebe ablegen müssen. Die Friedensbedingungen, welche
es der Türkei stellt, und mit denen es wohlweislich bis zum letzten
Moment hinter dem Berge hielt, sind nun, freilich noch nicht in
authentischer Gestalt, doch mit dem untrüglichen Stempel der Aechtheit
versehen, der Oeffentlichkeit überliefert worden.

Betrachten wir sie:

Rumänien, Serbien und Montenegro werden von der
Türkei ganz losgerissen; und aus der Bulgarei ein "autonomes",
zum Schein vorläufig die Oberherrlichkeit (Suzeränität) der Pforte
anerkennendes Fürstenthum errichtet. Das künftige Fürstenthum
Bulgarien
soll nicht nur das ehemalige Donau-Vilajet, sondern
alles Land südlich vom Balkan zwischen Serbien und dem Schwarzen
Meer mit Einschluß von Sophia und Philipopel umfassen. Adrianopel
wird der Türkei belassen, aber der "größere Theil von Thracien und
Macedonien", also etwa die Hälfte der noch übrigen europäischen Türkei,
wird zu Bulgarien geschlagen. Dieses neuconstruirte Fürstenthum wird,
bis die in Aussicht gestellte Notabeln-Versammlnng den Fürsten wählt,
von einer russischen Commission regiert werden und "bleibt"
von 30,000 Mann russischer Truppen besetzt. -- Wie
lange -- darüber verlautet nichts. Montenegro soll mit Antivari
und Podgorizza und außerdem durch Vergrößerung im Nordosten --
also einen Theil des Paschaliks Novi-Bazar belohnt werden, Serbien
soll Nisch und ein beträchtliches Stück von Bosnien erhalten.
Außerdem verlangt Rußland eine Kriegsentschädigung von
1400 Millionen Rubel
und als Pfand dafür Armenien
von Batum bis Bajazid.
Da die Türkei niemals im Stande
sein wird, die geforderte Summe zu bezahlen, so bedeutet die Ver-
pfändung halb Armeniens die definitive Abtretung dieses
Gebietes. Um aber in die eigenen leeren Taschen etwas Bargeld zu
bekommen, legt Rußland der Türkei noch 800 Millionen Mark
Extrastrafe in Obligationen auf, für deren pünktliche Verzinsung nebst
anderen Tributen auch der egyptische verpfändet erscheint, der schon
einmal für die sogenannte englische Anleihe verpfändet ward. Nicht
genug damit, verlangt Rußland auch die volle Rückzahlung der in
türkischen Schuldverschreibungen angelegten russischen Kapitalien.

Auffallender oder auch nicht auffallender Weise werden die
Dardanellen in den Friedensbedingungen gar nicht erwähnt.
Das Motiv ist nicht unschwer zu entdecken. Rußland will England
nicht reizen, um Oestreich, daß durch die Friedensbedingungen
kaum minder geschädigt wird als die Türkei, zu isoliren und die
gefürchtete englisch-östreichische Allianz zu hintertreiben. Auf einen Con-
flikt mit Oestreich scheint es die russische Diplomatie also ankommen

und Freiheitsliebe ablegen müſſen. Die Friedensbedingungen, welche
es der Türkei ſtellt, und mit denen es wohlweislich bis zum letzten
Moment hinter dem Berge hielt, ſind nun, freilich noch nicht in
authentiſcher Geſtalt, doch mit dem untrüglichen Stempel der Aechtheit
verſehen, der Oeffentlichkeit überliefert worden.

Betrachten wir ſie:

Rumänien, Serbien und Montenegro werden von der
Türkei ganz losgeriſſen; und aus der Bulgarei ein „autonomes‟,
zum Schein vorläufig die Oberherrlichkeit (Suzeränität) der Pforte
anerkennendes Fürſtenthum errichtet. Das künftige Fürſtenthum
Bulgarien
ſoll nicht nur das ehemalige Donau-Vilajet, ſondern
alles Land ſüdlich vom Balkan zwiſchen Serbien und dem Schwarzen
Meer mit Einſchluß von Sophia und Philipopel umfaſſen. Adrianopel
wird der Türkei belaſſen, aber der „größere Theil von Thracien und
Macedonien‟, alſo etwa die Hälfte der noch übrigen europäiſchen Türkei,
wird zu Bulgarien geſchlagen. Dieſes neuconſtruirte Fürſtenthum wird,
bis die in Ausſicht geſtellte Notabeln-Verſammlnng den Fürſten wählt,
von einer ruſſiſchen Commiſſion regiert werden und „bleibt
von 30,000 Mann ruſſiſcher Truppen beſetzt. — Wie
lange — darüber verlautet nichts. Montenegro ſoll mit Antivari
und Podgorizza und außerdem durch Vergrößerung im Nordoſten —
alſo einen Theil des Paſchaliks Novi-Bazar belohnt werden, Serbien
ſoll Niſch und ein beträchtliches Stück von Bosnien erhalten.
Außerdem verlangt Rußland eine Kriegsentſchädigung von
1400 Millionen Rubel
und als Pfand dafür Armenien
von Batum bis Bajazid.
Da die Türkei niemals im Stande
ſein wird, die geforderte Summe zu bezahlen, ſo bedeutet die Ver-
pfändung halb Armeniens die definitive Abtretung dieſes
Gebietes. Um aber in die eigenen leeren Taſchen etwas Bargeld zu
bekommen, legt Rußland der Türkei noch 800 Millionen Mark
Extraſtrafe in Obligationen auf, für deren pünktliche Verzinſung nebſt
anderen Tributen auch der egyptiſche verpfändet erſcheint, der ſchon
einmal für die ſogenannte engliſche Anleihe verpfändet ward. Nicht
genug damit, verlangt Rußland auch die volle Rückzahlung der in
türkiſchen Schuldverſchreibungen angelegten ruſſiſchen Kapitalien.

Auffallender oder auch nicht auffallender Weiſe werden die
Dardanellen in den Friedensbedingungen gar nicht erwähnt.
Das Motiv iſt nicht unſchwer zu entdecken. Rußland will England
nicht reizen, um Oeſtreich, daß durch die Friedensbedingungen
kaum minder geſchädigt wird als die Türkei, zu iſoliren und die
gefürchtete engliſch-öſtreichiſche Allianz zu hintertreiben. Auf einen Con-
flikt mit Oeſtreich ſcheint es die ruſſiſche Diplomatie alſo ankommen

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[52/0056] und Freiheitsliebe ablegen müſſen. Die Friedensbedingungen, welche es der Türkei ſtellt, und mit denen es wohlweislich bis zum letzten Moment hinter dem Berge hielt, ſind nun, freilich noch nicht in authentiſcher Geſtalt, doch mit dem untrüglichen Stempel der Aechtheit verſehen, der Oeffentlichkeit überliefert worden. Betrachten wir ſie: Rumänien, Serbien und Montenegro werden von der Türkei ganz losgeriſſen; und aus der Bulgarei ein „autonomes‟, zum Schein vorläufig die Oberherrlichkeit (Suzeränität) der Pforte anerkennendes Fürſtenthum errichtet. Das künftige Fürſtenthum Bulgarien ſoll nicht nur das ehemalige Donau-Vilajet, ſondern alles Land ſüdlich vom Balkan zwiſchen Serbien und dem Schwarzen Meer mit Einſchluß von Sophia und Philipopel umfaſſen. Adrianopel wird der Türkei belaſſen, aber der „größere Theil von Thracien und Macedonien‟, alſo etwa die Hälfte der noch übrigen europäiſchen Türkei, wird zu Bulgarien geſchlagen. Dieſes neuconſtruirte Fürſtenthum wird, bis die in Ausſicht geſtellte Notabeln-Verſammlnng den Fürſten wählt, von einer ruſſiſchen Commiſſion regiert werden und „bleibt‟ von 30,000 Mann ruſſiſcher Truppen beſetzt. — Wie lange — darüber verlautet nichts. Montenegro ſoll mit Antivari und Podgorizza und außerdem durch Vergrößerung im Nordoſten — alſo einen Theil des Paſchaliks Novi-Bazar belohnt werden, Serbien ſoll Niſch und ein beträchtliches Stück von Bosnien erhalten. Außerdem verlangt Rußland eine Kriegsentſchädigung von 1400 Millionen Rubel und als Pfand dafür Armenien von Batum bis Bajazid. Da die Türkei niemals im Stande ſein wird, die geforderte Summe zu bezahlen, ſo bedeutet die Ver- pfändung halb Armeniens die definitive Abtretung dieſes Gebietes. Um aber in die eigenen leeren Taſchen etwas Bargeld zu bekommen, legt Rußland der Türkei noch 800 Millionen Mark Extraſtrafe in Obligationen auf, für deren pünktliche Verzinſung nebſt anderen Tributen auch der egyptiſche verpfändet erſcheint, der ſchon einmal für die ſogenannte engliſche Anleihe verpfändet ward. Nicht genug damit, verlangt Rußland auch die volle Rückzahlung der in türkiſchen Schuldverſchreibungen angelegten ruſſiſchen Kapitalien. Auffallender oder auch nicht auffallender Weiſe werden die Dardanellen in den Friedensbedingungen gar nicht erwähnt. Das Motiv iſt nicht unſchwer zu entdecken. Rußland will England nicht reizen, um Oeſtreich, daß durch die Friedensbedingungen kaum minder geſchädigt wird als die Türkei, zu iſoliren und die gefürchtete engliſch-öſtreichiſche Allianz zu hintertreiben. Auf einen Con- flikt mit Oeſtreich ſcheint es die ruſſiſche Diplomatie alſo ankommen

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Zitationshilfe: Liebknecht, Wilhelm: Zur orientalischen Frage oder Soll Europa kosakisch werden? 2. Aufl. Leipzig, 1878, S. 52. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liebknecht_frage_1878/56>, abgerufen am 23.11.2024.