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Liebknecht, Wilhelm: Zur orientalischen Frage oder Soll Europa kosakisch werden? 2. Aufl. Leipzig, 1878.

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kommen zwischen Rußland und der Türkei getroffen werden, dessen Be-
stätigung oder Nichtbestätigung Sache der projektirten Conferenz (oder
wird's Congreß heißen?) sein wird.

Deutlicher kann nicht gesagt werden, daß Alles, was jetzt von
der russifchen Diplomatie zusammengebraut wird, bloß einen rein pro-
visorischen Charakter trägt. --

Genug: die Krallen des Erobrers sind nicht mehr verhüllt.
Hinter der "Civilisation" und "Freiheitsliebe" lauerte die niedrigste
Raubgier, der gemeinste Landhunger.

Und noch nach einer anderen Seite hin hat Rußland die Maske
fallen gelassen. Es hat seine Bestialität offenbart durch die Massen-
hinrichtungen
der in der Türkei gefangenen Polen, von denen die
meisten nicht einmal ehemalige "russische Unterthanen", ja Viele sogar
als Aerzte durch das Genfer Kreuz gedeckt waren. Durch diese
freche Verletzung des Völkerrechts und der Menschlichkeit hat das
zarische Rußland, |außer seiner Bestialität, auch seine wahre Meinung
über die Rechte "der unterdrückten Nationalitäten", in hellem Tages-
licht, vor versammeltem Europa, proklamirt, und sich den Stempel in-
famster Heuchelei aufgedrückt.

Für Den, der die moderne Geschichte nur einigermaßen kennt,
bedurfte es allerdings nicht dieses Exempels -- aber es ist so öffentlich
statuirt worden, daß fürderhin kein ehrlicher Mensch mit gesundem
Menschenverstande das Recht hat, den Versicherungen der russischen
Regierung zu glauben, daß ihr das Wohl der unterdrückten Nationali-
täten am Herz liege.

Dem Verbrechen wird die Strafe folgen. Die Nemesis wandelt
nicht immer schnell, aber sie geht sicher.

Schon kann das geübte Ohr ihren Schritt hören. Die polni-
sche Frage
-- und das ist vielleicht das wichtigste politische Ereigniß
der Gegenwart -- die polnische Frage steht auf der Tages-
ordnung;
im deutschen Reichstag und im österreichischen Abgeordneten-
haus ist sie unter dem zwingenden Druck der Verhältnisse zur Be-
sprechung gelangt, und im deutschen Reichstag ist die Wiederher-
stellung Polens
im Namen der Humanität, des nationalen Jnteresses
und der internationalen Gerechtigkeit gefordert worden. -- --

Wird der Friede zwischen Rußland und der Türkei, dessen Ab-
schluß seit 14 Tagen der bang harrenden Welt fast stündlich verheißen
wird, unterzeichnet werden? Wird der Congreß (oder die Con-
ferenz
) zusammen kommen? Oder werden die Verhandlungen zwischen
Russen und Türken sich zerschlagen, und wird die Kriegsfurie von
Neuem entfesselt und über Europa losgelassen werden?

Wer kann es wissen. Die Ereignisse sind längst den Händen

kommen zwiſchen Rußland und der Türkei getroffen werden, deſſen Be-
ſtätigung oder Nichtbeſtätigung Sache der projektirten Conferenz (oder
wird’s Congreß heißen?) ſein wird.

Deutlicher kann nicht geſagt werden, daß Alles, was jetzt von
der ruſſifchen Diplomatie zuſammengebraut wird, bloß einen rein pro-
viſoriſchen Charakter trägt. —

Genug: die Krallen des Erobrers ſind nicht mehr verhüllt.
Hinter der „Civiliſation‟ und „Freiheitsliebe‟ lauerte die niedrigſte
Raubgier, der gemeinſte Landhunger.

Und noch nach einer anderen Seite hin hat Rußland die Maske
fallen gelaſſen. Es hat ſeine Beſtialität offenbart durch die Maſſen-
hinrichtungen
der in der Türkei gefangenen Polen, von denen die
meiſten nicht einmal ehemalige „ruſſiſche Unterthanen‟, ja Viele ſogar
als Aerzte durch das Genfer Kreuz gedeckt waren. Durch dieſe
freche Verletzung des Völkerrechts und der Menſchlichkeit hat das
zariſche Rußland, |außer ſeiner Beſtialität, auch ſeine wahre Meinung
über die Rechte „der unterdrückten Nationalitäten‟, in hellem Tages-
licht, vor verſammeltem Europa, proklamirt, und ſich den Stempel in-
famſter Heuchelei aufgedrückt.

Für Den, der die moderne Geſchichte nur einigermaßen kennt,
bedurfte es allerdings nicht dieſes Exempels — aber es iſt ſo öffentlich
ſtatuirt worden, daß fürderhin kein ehrlicher Menſch mit geſundem
Menſchenverſtande das Recht hat, den Verſicherungen der ruſſiſchen
Regierung zu glauben, daß ihr das Wohl der unterdrückten Nationali-
täten am Herz liege.

Dem Verbrechen wird die Strafe folgen. Die Nemeſis wandelt
nicht immer ſchnell, aber ſie geht ſicher.

Schon kann das geübte Ohr ihren Schritt hören. Die polni-
ſche Frage
— und das iſt vielleicht das wichtigſte politiſche Ereigniß
der Gegenwart — die polniſche Frage ſteht auf der Tages-
ordnung;
im deutſchen Reichstag und im öſterreichiſchen Abgeordneten-
haus iſt ſie unter dem zwingenden Druck der Verhältniſſe zur Be-
ſprechung gelangt, und im deutſchen Reichstag iſt die Wiederher-
ſtellung Polens
im Namen der Humanität, des nationalen Jntereſſes
und der internationalen Gerechtigkeit gefordert worden. — —

Wird der Friede zwiſchen Rußland und der Türkei, deſſen Ab-
ſchluß ſeit 14 Tagen der bang harrenden Welt faſt ſtündlich verheißen
wird, unterzeichnet werden? Wird der Congreß (oder die Con-
ferenz
) zuſammen kommen? Oder werden die Verhandlungen zwiſchen
Ruſſen und Türken ſich zerſchlagen, und wird die Kriegsfurie von
Neuem entfeſſelt und über Europa losgelaſſen werden?

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[54/0058] kommen zwiſchen Rußland und der Türkei getroffen werden, deſſen Be- ſtätigung oder Nichtbeſtätigung Sache der projektirten Conferenz (oder wird’s Congreß heißen?) ſein wird. Deutlicher kann nicht geſagt werden, daß Alles, was jetzt von der ruſſifchen Diplomatie zuſammengebraut wird, bloß einen rein pro- viſoriſchen Charakter trägt. — Genug: die Krallen des Erobrers ſind nicht mehr verhüllt. Hinter der „Civiliſation‟ und „Freiheitsliebe‟ lauerte die niedrigſte Raubgier, der gemeinſte Landhunger. Und noch nach einer anderen Seite hin hat Rußland die Maske fallen gelaſſen. Es hat ſeine Beſtialität offenbart durch die Maſſen- hinrichtungen der in der Türkei gefangenen Polen, von denen die meiſten nicht einmal ehemalige „ruſſiſche Unterthanen‟, ja Viele ſogar als Aerzte durch das Genfer Kreuz gedeckt waren. Durch dieſe freche Verletzung des Völkerrechts und der Menſchlichkeit hat das zariſche Rußland, |außer ſeiner Beſtialität, auch ſeine wahre Meinung über die Rechte „der unterdrückten Nationalitäten‟, in hellem Tages- licht, vor verſammeltem Europa, proklamirt, und ſich den Stempel in- famſter Heuchelei aufgedrückt. Für Den, der die moderne Geſchichte nur einigermaßen kennt, bedurfte es allerdings nicht dieſes Exempels — aber es iſt ſo öffentlich ſtatuirt worden, daß fürderhin kein ehrlicher Menſch mit geſundem Menſchenverſtande das Recht hat, den Verſicherungen der ruſſiſchen Regierung zu glauben, daß ihr das Wohl der unterdrückten Nationali- täten am Herz liege. Dem Verbrechen wird die Strafe folgen. Die Nemeſis wandelt nicht immer ſchnell, aber ſie geht ſicher. Schon kann das geübte Ohr ihren Schritt hören. Die polni- ſche Frage — und das iſt vielleicht das wichtigſte politiſche Ereigniß der Gegenwart — die polniſche Frage ſteht auf der Tages- ordnung; im deutſchen Reichstag und im öſterreichiſchen Abgeordneten- haus iſt ſie unter dem zwingenden Druck der Verhältniſſe zur Be- ſprechung gelangt, und im deutſchen Reichstag iſt die Wiederher- ſtellung Polens im Namen der Humanität, des nationalen Jntereſſes und der internationalen Gerechtigkeit gefordert worden. — — Wird der Friede zwiſchen Rußland und der Türkei, deſſen Ab- ſchluß ſeit 14 Tagen der bang harrenden Welt faſt ſtündlich verheißen wird, unterzeichnet werden? Wird der Congreß (oder die Con- ferenz) zuſammen kommen? Oder werden die Verhandlungen zwiſchen Ruſſen und Türken ſich zerſchlagen, und wird die Kriegsfurie von Neuem entfeſſelt und über Europa losgelaſſen werden? Wer kann es wiſſen. Die Ereigniſſe ſind längſt den Händen

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Zitationshilfe: Liebknecht, Wilhelm: Zur orientalischen Frage oder Soll Europa kosakisch werden? 2. Aufl. Leipzig, 1878, S. 54. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liebknecht_frage_1878/58>, abgerufen am 23.11.2024.