zwingt, zu den Bäumen oder Dächern der Dörfer und Städte seine Zuflucht zu nehmen. Sollte die Stimme, der Gesang des Menschen es sein, was ihn anzieht, seine Nähe aufzusuchen, oder hat er vielleicht Freude an des Menschen Wirken und Schaffen? Wer könnte jemals sicheren Aufschluss hierüber geben, ohne die eigentümliche Sprache des Storches zu ver- stehen?
Jedenfalls reicht diese Freundschaft und dieses Zusammen- leben zwischen Storch und Mensch in die sagenhafte Vorzeit zurück; uns aber bleibt nichts anderes übrig, als darüber erfreut zu sein, dass es, sei es durch Klugheit, Zufall oder Aberglauben, so gekommen ist, dass einer der grössten Vögel und vorzüglichsten Flieger selbst den Menschen aufsucht, und gerade dann, wenn der herrliche Himmel der warmen Jahres- zeit uns in seine Räume lockt, den Anblick seiner Fittige mit ihren weichen, schönen Bewegungen zu unserem Fliegestudium darbietet.
Aber die grosse Stadt zieht den Storch nicht an, in den stillen Dörfern fühlt er sich am wohlsten, und dort zeigt er sich gegen den Menschen, der ihn stets schonte, sehr zutrau- lich. So sieht man ihn ganz dicht bei den Feldarbeitern Nahrung suchen. Im hohen Kornfeld, das für ihn so manche Leckerbissen verbirgt, kann er weder gehen noch von dem- selben wieder auffliegen, darum leistet er den Schnittern Ge- sellschaft, um dicht hinter ihnen die frei gewordene Fläche nach Ungeziefer abzusuchen. Er weiss, dass unter den Kar- toffelsäcken die Mäuse sich gern verbergen, und wenn die Säcke mit den Frühkartoffeln auf den Wagen geladen werden, passt er gut auf, und manche Feldmaus wandert dabei in seinen Kropf. Angesichts dieser nützlichen Beschäftigung würde der Landmann ein Thor sein, den Storch nicht zu hegen und zu pflegen, wo er nur kann. Diese praktischen Gesichts- punkte verschaffen dem Landbewohner nun aber auch das Ver- gnügen, seinen Freund als prächtigen Flieger täglich über sich zu sehen.
Es ist wirklich kein Wunder, wenn die Landleute, über
zwingt, zu den Bäumen oder Dächern der Dörfer und Städte seine Zuflucht zu nehmen. Sollte die Stimme, der Gesang des Menschen es sein, was ihn anzieht, seine Nähe aufzusuchen, oder hat er vielleicht Freude an des Menschen Wirken und Schaffen? Wer könnte jemals sicheren Aufschluſs hierüber geben, ohne die eigentümliche Sprache des Storches zu ver- stehen?
Jedenfalls reicht diese Freundschaft und dieses Zusammen- leben zwischen Storch und Mensch in die sagenhafte Vorzeit zurück; uns aber bleibt nichts anderes übrig, als darüber erfreut zu sein, daſs es, sei es durch Klugheit, Zufall oder Aberglauben, so gekommen ist, daſs einer der gröſsten Vögel und vorzüglichsten Flieger selbst den Menschen aufsucht, und gerade dann, wenn der herrliche Himmel der warmen Jahres- zeit uns in seine Räume lockt, den Anblick seiner Fittige mit ihren weichen, schönen Bewegungen zu unserem Fliegestudium darbietet.
Aber die groſse Stadt zieht den Storch nicht an, in den stillen Dörfern fühlt er sich am wohlsten, und dort zeigt er sich gegen den Menschen, der ihn stets schonte, sehr zutrau- lich. So sieht man ihn ganz dicht bei den Feldarbeitern Nahrung suchen. Im hohen Kornfeld, das für ihn so manche Leckerbissen verbirgt, kann er weder gehen noch von dem- selben wieder auffliegen, darum leistet er den Schnittern Ge- sellschaft, um dicht hinter ihnen die frei gewordene Fläche nach Ungeziefer abzusuchen. Er weiſs, daſs unter den Kar- toffelsäcken die Mäuse sich gern verbergen, und wenn die Säcke mit den Frühkartoffeln auf den Wagen geladen werden, paſst er gut auf, und manche Feldmaus wandert dabei in seinen Kropf. Angesichts dieser nützlichen Beschäftigung würde der Landmann ein Thor sein, den Storch nicht zu hegen und zu pflegen, wo er nur kann. Diese praktischen Gesichts- punkte verschaffen dem Landbewohner nun aber auch das Ver- gnügen, seinen Freund als prächtigen Flieger täglich über sich zu sehen.
Es ist wirklich kein Wunder, wenn die Landleute, über
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zwingt, zu den Bäumen oder Dächern der Dörfer und Städte
seine Zuflucht zu nehmen. Sollte die Stimme, der Gesang des
Menschen es sein, was ihn anzieht, seine Nähe aufzusuchen,
oder hat er vielleicht Freude an des Menschen Wirken und
Schaffen? Wer könnte jemals sicheren Aufschluſs hierüber
geben, ohne die eigentümliche Sprache des Storches zu ver-
stehen?
Jedenfalls reicht diese Freundschaft und dieses Zusammen-
leben zwischen Storch und Mensch in die sagenhafte Vorzeit
zurück; uns aber bleibt nichts anderes übrig, als darüber
erfreut zu sein, daſs es, sei es durch Klugheit, Zufall oder
Aberglauben, so gekommen ist, daſs einer der gröſsten Vögel
und vorzüglichsten Flieger selbst den Menschen aufsucht, und
gerade dann, wenn der herrliche Himmel der warmen Jahres-
zeit uns in seine Räume lockt, den Anblick seiner Fittige mit
ihren weichen, schönen Bewegungen zu unserem Fliegestudium
darbietet.
Aber die groſse Stadt zieht den Storch nicht an, in den
stillen Dörfern fühlt er sich am wohlsten, und dort zeigt er
sich gegen den Menschen, der ihn stets schonte, sehr zutrau-
lich. So sieht man ihn ganz dicht bei den Feldarbeitern
Nahrung suchen. Im hohen Kornfeld, das für ihn so manche
Leckerbissen verbirgt, kann er weder gehen noch von dem-
selben wieder auffliegen, darum leistet er den Schnittern Ge-
sellschaft, um dicht hinter ihnen die frei gewordene Fläche
nach Ungeziefer abzusuchen. Er weiſs, daſs unter den Kar-
toffelsäcken die Mäuse sich gern verbergen, und wenn die
Säcke mit den Frühkartoffeln auf den Wagen geladen werden,
paſst er gut auf, und manche Feldmaus wandert dabei in
seinen Kropf. Angesichts dieser nützlichen Beschäftigung
würde der Landmann ein Thor sein, den Storch nicht zu hegen
und zu pflegen, wo er nur kann. Diese praktischen Gesichts-
punkte verschaffen dem Landbewohner nun aber auch das Ver-
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Lilienthal, Otto: Der Vogelflug als Grundlage der Fliegekunst. Ein Beitrag zur Systematik der Flugtechnik. Berlin, 1889, S. 150. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lilienthal_vogelflug_1889/166>, abgerufen am 16.08.2024.
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