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Lilienthal, Otto: Der Vogelflug als Grundlage der Fliegekunst. Ein Beitrag zur Systematik der Flugtechnik. Berlin, 1889.

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Wie diese geeigneten Flügel beschaffen sein müssen, und
wie solche Flügel zu bewegen sind, das sind die beiden grossen
Fragen der Flugtechnik.

Indem wir beobachten, wie die Natur diese Fragen gelöst
hat, und indem wir die ebene Flugfläche für den Flug grösserer
Wesen als ungeeignet verwerfen, fühlen wir jenen Alp nach
und nach verschwinden, der uns vor der Beschaffung der
zum Fliegen erforderlichen motorischen Kraft zurückschrecken
machte. Wir werden gewahr, wie durch den gewölbten Natur-
flügel die Flugfrage sich ablöst von der reinen Kraftfrage
und mehr in eine Frage der Geschicklichkeit sich verwandelt.

In der Kraftfrage können Zahlen Halt gebieten, doch die
Geschicklichkeit ist unbegrenzt. Mit der Kraft stehen wir
bald einmal vor ewigen Unmöglichkeiten, mit der Geschick-
lichkeit aber nur vor zeitlichen Schwierigkeiten.

Schauen wir auf zu der Möwe, welche drei Armlängen
über unserem Haupte fast regungslos im Winde schwebt!
Die eben untergehende Sonne wirft den Schlagschatten der
Kante ihres Flügels auf die schwach gewölbte, sonst hellgraue,
jetzt rot vergoldete Unterfläche ihrer Schwingen. Die leichten
Flügeldrehungen erkennen wir an dem Schmaler- und Breiter-
werden dieses Schattens, der uns aber auch gleichzeitig eine
Vorstellung giebt von der Wölbung, die der Flügel hat, wenn
die Möwe mit ihm auf der Luft ruht.

Dies ist der körperliche Flügel, den Goethe vermisste,
als er den Faust seufzen liess:

"Ach, zu des Geistes Flügeln wird so leicht
Kein körperlicher Flügel sich gesellen!"

Ja, nicht so leicht wird es sein, diesen Naturflügel nun
auch mit allen seinen kraftsparenden Eigenschaften für den
Menschen brauchbar auszuführen, und wohl noch weniger
leicht mag es sein, den Wind, diesen unstäten Gesellen, der
so gern die Früchte unseres Fleisses zerstört, mit körperlichen
Flügeln, die uns nicht angeboren sind, zu meistern. Aber

Wie diese geeigneten Flügel beschaffen sein müssen, und
wie solche Flügel zu bewegen sind, das sind die beiden groſsen
Fragen der Flugtechnik.

Indem wir beobachten, wie die Natur diese Fragen gelöst
hat, und indem wir die ebene Flugfläche für den Flug gröſserer
Wesen als ungeeignet verwerfen, fühlen wir jenen Alp nach
und nach verschwinden, der uns vor der Beschaffung der
zum Fliegen erforderlichen motorischen Kraft zurückschrecken
machte. Wir werden gewahr, wie durch den gewölbten Natur-
flügel die Flugfrage sich ablöst von der reinen Kraftfrage
und mehr in eine Frage der Geschicklichkeit sich verwandelt.

In der Kraftfrage können Zahlen Halt gebieten, doch die
Geschicklichkeit ist unbegrenzt. Mit der Kraft stehen wir
bald einmal vor ewigen Unmöglichkeiten, mit der Geschick-
lichkeit aber nur vor zeitlichen Schwierigkeiten.

Schauen wir auf zu der Möwe, welche drei Armlängen
über unserem Haupte fast regungslos im Winde schwebt!
Die eben untergehende Sonne wirft den Schlagschatten der
Kante ihres Flügels auf die schwach gewölbte, sonst hellgraue,
jetzt rot vergoldete Unterfläche ihrer Schwingen. Die leichten
Flügeldrehungen erkennen wir an dem Schmaler- und Breiter-
werden dieses Schattens, der uns aber auch gleichzeitig eine
Vorstellung giebt von der Wölbung, die der Flügel hat, wenn
die Möwe mit ihm auf der Luft ruht.

Dies ist der körperliche Flügel, den Goethe vermiſste,
als er den Faust seufzen lieſs:

„Ach, zu des Geistes Flügeln wird so leicht
Kein körperlicher Flügel sich gesellen!“

Ja, nicht so leicht wird es sein, diesen Naturflügel nun
auch mit allen seinen kraftsparenden Eigenschaften für den
Menschen brauchbar auszuführen, und wohl noch weniger
leicht mag es sein, den Wind, diesen unstäten Gesellen, der
so gern die Früchte unseres Fleiſses zerstört, mit körperlichen
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[186/0202] Wie diese geeigneten Flügel beschaffen sein müssen, und wie solche Flügel zu bewegen sind, das sind die beiden groſsen Fragen der Flugtechnik. Indem wir beobachten, wie die Natur diese Fragen gelöst hat, und indem wir die ebene Flugfläche für den Flug gröſserer Wesen als ungeeignet verwerfen, fühlen wir jenen Alp nach und nach verschwinden, der uns vor der Beschaffung der zum Fliegen erforderlichen motorischen Kraft zurückschrecken machte. Wir werden gewahr, wie durch den gewölbten Natur- flügel die Flugfrage sich ablöst von der reinen Kraftfrage und mehr in eine Frage der Geschicklichkeit sich verwandelt. In der Kraftfrage können Zahlen Halt gebieten, doch die Geschicklichkeit ist unbegrenzt. Mit der Kraft stehen wir bald einmal vor ewigen Unmöglichkeiten, mit der Geschick- lichkeit aber nur vor zeitlichen Schwierigkeiten. Schauen wir auf zu der Möwe, welche drei Armlängen über unserem Haupte fast regungslos im Winde schwebt! Die eben untergehende Sonne wirft den Schlagschatten der Kante ihres Flügels auf die schwach gewölbte, sonst hellgraue, jetzt rot vergoldete Unterfläche ihrer Schwingen. Die leichten Flügeldrehungen erkennen wir an dem Schmaler- und Breiter- werden dieses Schattens, der uns aber auch gleichzeitig eine Vorstellung giebt von der Wölbung, die der Flügel hat, wenn die Möwe mit ihm auf der Luft ruht. Dies ist der körperliche Flügel, den Goethe vermiſste, als er den Faust seufzen lieſs: „Ach, zu des Geistes Flügeln wird so leicht Kein körperlicher Flügel sich gesellen!“ Ja, nicht so leicht wird es sein, diesen Naturflügel nun auch mit allen seinen kraftsparenden Eigenschaften für den Menschen brauchbar auszuführen, und wohl noch weniger leicht mag es sein, den Wind, diesen unstäten Gesellen, der so gern die Früchte unseres Fleiſses zerstört, mit körperlichen Flügeln, die uns nicht angeboren sind, zu meistern. Aber

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Zitationshilfe: Lilienthal, Otto: Der Vogelflug als Grundlage der Fliegekunst. Ein Beitrag zur Systematik der Flugtechnik. Berlin, 1889, S. 186. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lilienthal_vogelflug_1889/202>, abgerufen am 24.11.2024.