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Lischnewska, Maria: Die deutsche Frauenstimmrechtsbewegung zwischen Krieg und Frieden. Berlin, 1915.

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Es mag bei manchem Befremden erregen, heute, mitten im
Sturm eines großen, weltgeschichtlichen Geschehens, vom
Frauenstimmrecht hören zu sollen. Und doch, so sicher sich
im ganzen deutschen Volke Kräfte regen, die ein durchaus Neues
aufbauen wollen zum Segen der Nation, so sicher sind in politisch
denkenden Frauen die alten Forderungen lebendiger denn je, und
alles harrt der Stunde, in der das neue Deutschland, größer und
gewaltiger als jemals, seine Frauen aus Jahrhunderte alter Hörig-
keit befreien muß.

Für diesen Tag heißt es: sich vorbereiten und die letzten Eier-
schalen der Vergangenheit von sich werfen. Diesem Zweck soll auch
diese Schrift dienen, indem sie Licht auf die Vergangenheit wirft
und neue Wege weist.

Die Bahnbrecher.

Wer von der Geschichte des Frauenstimmrechts sprechen will,
muß scharf unterscheiden zwischen der Geschichte der Jdee
und der Geschichte der Bewegung. Die Jdee ist sehr alt,
sie reicht bis auf Plato zurück, die Geschichte der Bewegung ist jung,
denn sie beginnt erst da, wo organisierte Frauen die Forde-
rung staatsbürgerlicher Rechte auf ihre Fahne schreiben. So haben
auch wir deutschen Stimmrechtlerinnen große Vorläufer und Träger
der Jdee gehabt: den Königsberger Bürgermeister von Hippel,
Malwida von Meysenbug, Luise Otto-Peters, Hedwig Dohm,
August Bebel. Sie waren alle Prediger in der Wüste. Kein
Widerklang antwortete ihnen aus den Massen, denn diese Massen
lagen tot und stumm: als Geschlechtswesen gefesselt und verbraucht.
Selbst die 1865 geschaffene Frauenbewegung wagte nicht, so gefähr-
lichen Rufern Gehör zu geben. Sie war aus der Arbeits- und
Bildungsnot der Frauen des Bürgerstandes erwachsen und glaubte
in einer noch gänzlich unpolitischen Nation sich streng aller rechtlich
grundlegenden Forderungen enthalten zu müssen. Erst drei Jahrzehnte
später, als die große Stagnation der ältern Frauenbewegung ihren

Es mag bei manchem Befremden erregen, heute, mitten im
Sturm eines großen, weltgeschichtlichen Geschehens, vom
Frauenstimmrecht hören zu sollen. Und doch, so sicher sich
im ganzen deutschen Volke Kräfte regen, die ein durchaus Neues
aufbauen wollen zum Segen der Nation, so sicher sind in politisch
denkenden Frauen die alten Forderungen lebendiger denn je, und
alles harrt der Stunde, in der das neue Deutschland, größer und
gewaltiger als jemals, seine Frauen aus Jahrhunderte alter Hörig-
keit befreien muß.

Für diesen Tag heißt es: sich vorbereiten und die letzten Eier-
schalen der Vergangenheit von sich werfen. Diesem Zweck soll auch
diese Schrift dienen, indem sie Licht auf die Vergangenheit wirft
und neue Wege weist.

Die Bahnbrecher.

Wer von der Geschichte des Frauenstimmrechts sprechen will,
muß scharf unterscheiden zwischen der Geschichte der Jdee
und der Geschichte der Bewegung. Die Jdee ist sehr alt,
sie reicht bis auf Plato zurück, die Geschichte der Bewegung ist jung,
denn sie beginnt erst da, wo organisierte Frauen die Forde-
rung staatsbürgerlicher Rechte auf ihre Fahne schreiben. So haben
auch wir deutschen Stimmrechtlerinnen große Vorläufer und Träger
der Jdee gehabt: den Königsberger Bürgermeister von Hippel,
Malwida von Meysenbug, Luise Otto-Peters, Hedwig Dohm,
August Bebel. Sie waren alle Prediger in der Wüste. Kein
Widerklang antwortete ihnen aus den Massen, denn diese Massen
lagen tot und stumm: als Geschlechtswesen gefesselt und verbraucht.
Selbst die 1865 geschaffene Frauenbewegung wagte nicht, so gefähr-
lichen Rufern Gehör zu geben. Sie war aus der Arbeits- und
Bildungsnot der Frauen des Bürgerstandes erwachsen und glaubte
in einer noch gänzlich unpolitischen Nation sich streng aller rechtlich
grundlegenden Forderungen enthalten zu müssen. Erst drei Jahrzehnte
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[3/0003] Es mag bei manchem Befremden erregen, heute, mitten im Sturm eines großen, weltgeschichtlichen Geschehens, vom Frauenstimmrecht hören zu sollen. Und doch, so sicher sich im ganzen deutschen Volke Kräfte regen, die ein durchaus Neues aufbauen wollen zum Segen der Nation, so sicher sind in politisch denkenden Frauen die alten Forderungen lebendiger denn je, und alles harrt der Stunde, in der das neue Deutschland, größer und gewaltiger als jemals, seine Frauen aus Jahrhunderte alter Hörig- keit befreien muß. Für diesen Tag heißt es: sich vorbereiten und die letzten Eier- schalen der Vergangenheit von sich werfen. Diesem Zweck soll auch diese Schrift dienen, indem sie Licht auf die Vergangenheit wirft und neue Wege weist. Die Bahnbrecher. Wer von der Geschichte des Frauenstimmrechts sprechen will, muß scharf unterscheiden zwischen der Geschichte der Jdee und der Geschichte der Bewegung. Die Jdee ist sehr alt, sie reicht bis auf Plato zurück, die Geschichte der Bewegung ist jung, denn sie beginnt erst da, wo organisierte Frauen die Forde- rung staatsbürgerlicher Rechte auf ihre Fahne schreiben. So haben auch wir deutschen Stimmrechtlerinnen große Vorläufer und Träger der Jdee gehabt: den Königsberger Bürgermeister von Hippel, Malwida von Meysenbug, Luise Otto-Peters, Hedwig Dohm, August Bebel. Sie waren alle Prediger in der Wüste. Kein Widerklang antwortete ihnen aus den Massen, denn diese Massen lagen tot und stumm: als Geschlechtswesen gefesselt und verbraucht. Selbst die 1865 geschaffene Frauenbewegung wagte nicht, so gefähr- lichen Rufern Gehör zu geben. Sie war aus der Arbeits- und Bildungsnot der Frauen des Bürgerstandes erwachsen und glaubte in einer noch gänzlich unpolitischen Nation sich streng aller rechtlich grundlegenden Forderungen enthalten zu müssen. Erst drei Jahrzehnte später, als die große Stagnation der ältern Frauenbewegung ihren  

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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Texte der ersten Frauenbewegung, betreut von Anna Pfundt und Thomas Gloning, JLU Gießen: Bereitstellung der Texttranskription. (2015-05-11T12:53:44Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Anna Pfundt: Bearbeitung der digitalen Edition. (2015-05-11T12:53:44Z)

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Zitationshilfe: Lischnewska, Maria: Die deutsche Frauenstimmrechtsbewegung zwischen Krieg und Frieden. Berlin, 1915, S. 3. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lischnewska_frauenstimmrechtsbewegung_1915/3>, abgerufen am 28.04.2024.