Lischnewska, Maria: Die deutsche Frauenstimmrechtsbewegung zwischen Krieg und Frieden. Berlin, 1915.
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II.
Thesen des Vorstandes.
1. Wenn die Bevölkerung für das Frauenstimmrecht ge-
wonnen werden soll, so ist es vor allen Dingen nötig, die Frauen
selbst dafür zu gewinnen. Dabei muß sich eine Frauenstimmrechts-
Organisation an die Frauen aller Klassen wenden. Vornehmlich
hat sie aber ihr Augenmerk auf die Schichten zu lenken, die das
Stimmrecht am dringendsten gebrauchen. Wer tagtäglich die un-
günstigen Wirkungen einer Gesetzgebung empfindet, wird am
stärksten den Wunsch haben, diese Wirkungen durch Beeinflussung
der Gesetzgebung zu beseitigen. Das sind vor allem die berufs-
tätigen Frauen und die Ehefrauen der Schichten, die im täglichen
Kampf um das Brot durch jede ungerechte Steuergesetzgebung, jede
Verteuerung von Lebensmitteln und Produktionsmitteln stark be-
lastet werden.
2. Wenn sich der Deutsche Verband für Frauenstimmrecht auf
diese Frauen stützt, die zugleich die Masse der Frauen ausmachen,
so muß er sich fragen, ob ihnen mit einer einfachen Uebertragung
des jeweils bestehenden Männerwahlrechts gedient ist. Er muß
die verschiedenen Wahlsysteme auf ihre Anwendbarkeit für die
Frauen prüfen, denn er kann die Masse der Frauen nicht dauernd
für ein theoretisches Recht begeistern, wenn er ihnen nicht gleich-
zeitig beweist, daß die praktische Benutzung dieses Rechts ihnen Vor-
teile bringen kann.
3. Aus dieser Ueberzeugung heraus verlangt der Deutsche
Verband für Frauenstimmrecht in seiner Satzung, die für seine
Landesvereine und Ortsgruppen verbindlich ist, das allgemeine,
gleiche, direkte, geheime Wahlrecht. Bei jedem beschränkten, d. h.
nach Steuerleistung oder Bildung bemessenen Wahlrecht werden
gerade die berufstätigen Frauen und die Ehefrauen der mittleren
Schichten stark benachteiligt; sie werden aber auch noch benachteiligt
gegenüber den Männern, da die Frauenlöhne ganz allgemein
niedriger sind als die Männerlöhne der gleichen Berufsschicht.
4. Mit dieser Forderung verläßt der Deutsche Verband für
Frauenstimmrecht nicht den von ihm vertretenen Neutralitäts-
standpunkt, er verletzt nicht einen der satzungsmäßig festgelegten
Grundsätze der Organisation, denn er stellt sich mit dieser Forderung
durchaus nicht „auf den Boden einer bestimmten politischen Partei‟.
Man steht nicht auf dem Boden einer politischen Partei, wenn man
eine Forderung vertritt, die eine oder mehrere Parteien neben
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(2015-05-11T12:53:44Z)
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