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Lischnewska, Maria: Die deutsche Frauenstimmrechtsbewegung zwischen Krieg und Frieden. Berlin, 1915.

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Tagungen die Reichstags- und Landtagsverhandlungen täglich
und gründlich. Die Leitartikel ihrer politischen Zeitung inter-
essieren sie weniger, als etwa literarische und künstlerische Berichte.

Jch bin durch sechsjährige Erfahrung im Verein der liberalen
Frauen von Groß-Berlin zu der Ueberzeugung gekommen, daß
die ungeheure Aufgabe: aus Frauen Politikerinnen zu
erziehen
, nur auf dem Wege regelmäßiger Dis-
kussionsabende
zu lösen ist. Wer politisch interessiert ist,
kommt; er kommt auch wöchentlich regelmäßig. Hier gilt es vor
allem, den Ereignissen des Tages zu folgen. Kurze, einfache Be-
richte über die bedeutendsten Ereignisse der Woche im Aus- und
Jnlande stellen die feste Tagesordnung dar. Die Berichte über
die Reichstags- und Landtagsverhandlungen nehmen einen breiten
Raum ein. Erscheint ein ganz neues Gebiet, z. B. das Reichs-
getreidemonopol, die letzten Forderungen Chinas an Japan, die
Loslösung Jtaliens vom Dreibunde, so wird ein historischer Rück-
blick als Einleitung gegeben. Dieselben Fragen kehren dann in
den Tagesereignissen in der Beleuchtung der politischen Zeitungen
fortgesetzt, ja dauernd wieder, werden also immer wieder er-
örtert, und so bildet sich Einsicht und Urteil. Besonders interessierte
Mitglieder erscheinen dann schon mit Ausschnitten und sind dank-
bar, wenn ihnen Schriften zu weiteren Studien empfohlen werden.
Hat man nun noch Spezialvertreter für einzelne Staaten ge-
wonnen, so vertieft sich die Arbeit stetig. Jch denke hierbei an
wöchentliche Diskussionsabende während des ganzen Winters.

Durch diese mühevolle Arbeit des Vorstandes wird ein
Großes erreicht werden: die Stimmrechtlerinnen werden ge-
zwungen werden, sorgfältig und gründlich politische
Zeitungen zu lesen
. Jst dieser Anfang da, so entwickelt sich
alles Weitere fast von selbst. Das politische Jnteresse erwacht, es
wächst von Monat zu Monat, und endlich ist der Mensch mit allen
Kräften seines Wesens dem hinreißenden Spiel der Kräfte ver-
schrieben, die ja nichts anderes darstellen als das Werden der Ge-
schichte der Gegenwart. Nun wird man vielleicht einwenden, daß
viele Frauen zu so eingehenden politischen Studien keine Zeit
hätten, und daß viele unserer Männer weit von einem so intensiven
Jnteresse entfernt sind. Beides ist richtig. Wir Frauen aber
können nicht auf die unpolitische Masse der Männer blicken, wir
müssen unsere Kräfte zusammenfassen, Führer, Pioniere, politische
Fachleute ausbilden, denn wir sind eine vorwärtsschreitende
Armee, die Neuland erobern will und muß. Erfüllt die Stimm-

Tagungen die Reichstags- und Landtagsverhandlungen täglich
und gründlich. Die Leitartikel ihrer politischen Zeitung inter-
essieren sie weniger, als etwa literarische und künstlerische Berichte.

Jch bin durch sechsjährige Erfahrung im Verein der liberalen
Frauen von Groß-Berlin zu der Ueberzeugung gekommen, daß
die ungeheure Aufgabe: aus Frauen Politikerinnen zu
erziehen
, nur auf dem Wege regelmäßiger Dis-
kussionsabende
zu lösen ist. Wer politisch interessiert ist,
kommt; er kommt auch wöchentlich regelmäßig. Hier gilt es vor
allem, den Ereignissen des Tages zu folgen. Kurze, einfache Be-
richte über die bedeutendsten Ereignisse der Woche im Aus- und
Jnlande stellen die feste Tagesordnung dar. Die Berichte über
die Reichstags- und Landtagsverhandlungen nehmen einen breiten
Raum ein. Erscheint ein ganz neues Gebiet, z. B. das Reichs-
getreidemonopol, die letzten Forderungen Chinas an Japan, die
Loslösung Jtaliens vom Dreibunde, so wird ein historischer Rück-
blick als Einleitung gegeben. Dieselben Fragen kehren dann in
den Tagesereignissen in der Beleuchtung der politischen Zeitungen
fortgesetzt, ja dauernd wieder, werden also immer wieder er-
örtert, und so bildet sich Einsicht und Urteil. Besonders interessierte
Mitglieder erscheinen dann schon mit Ausschnitten und sind dank-
bar, wenn ihnen Schriften zu weiteren Studien empfohlen werden.
Hat man nun noch Spezialvertreter für einzelne Staaten ge-
wonnen, so vertieft sich die Arbeit stetig. Jch denke hierbei an
wöchentliche Diskussionsabende während des ganzen Winters.

Durch diese mühevolle Arbeit des Vorstandes wird ein
Großes erreicht werden: die Stimmrechtlerinnen werden ge-
zwungen werden, sorgfältig und gründlich politische
Zeitungen zu lesen
. Jst dieser Anfang da, so entwickelt sich
alles Weitere fast von selbst. Das politische Jnteresse erwacht, es
wächst von Monat zu Monat, und endlich ist der Mensch mit allen
Kräften seines Wesens dem hinreißenden Spiel der Kräfte ver-
schrieben, die ja nichts anderes darstellen als das Werden der Ge-
schichte der Gegenwart. Nun wird man vielleicht einwenden, daß
viele Frauen zu so eingehenden politischen Studien keine Zeit
hätten, und daß viele unserer Männer weit von einem so intensiven
Jnteresse entfernt sind. Beides ist richtig. Wir Frauen aber
können nicht auf die unpolitische Masse der Männer blicken, wir
müssen unsere Kräfte zusammenfassen, Führer, Pioniere, politische
Fachleute ausbilden, denn wir sind eine vorwärtsschreitende
Armee, die Neuland erobern will und muß. Erfüllt die Stimm-

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[42/0042] Tagungen die Reichstags- und Landtagsverhandlungen täglich und gründlich. Die Leitartikel ihrer politischen Zeitung inter- essieren sie weniger, als etwa literarische und künstlerische Berichte. Jch bin durch sechsjährige Erfahrung im Verein der liberalen Frauen von Groß-Berlin zu der Ueberzeugung gekommen, daß die ungeheure Aufgabe: aus Frauen Politikerinnen zu erziehen, nur auf dem Wege regelmäßiger Dis- kussionsabende zu lösen ist. Wer politisch interessiert ist, kommt; er kommt auch wöchentlich regelmäßig. Hier gilt es vor allem, den Ereignissen des Tages zu folgen. Kurze, einfache Be- richte über die bedeutendsten Ereignisse der Woche im Aus- und Jnlande stellen die feste Tagesordnung dar. Die Berichte über die Reichstags- und Landtagsverhandlungen nehmen einen breiten Raum ein. Erscheint ein ganz neues Gebiet, z. B. das Reichs- getreidemonopol, die letzten Forderungen Chinas an Japan, die Loslösung Jtaliens vom Dreibunde, so wird ein historischer Rück- blick als Einleitung gegeben. Dieselben Fragen kehren dann in den Tagesereignissen in der Beleuchtung der politischen Zeitungen fortgesetzt, ja dauernd wieder, werden also immer wieder er- örtert, und so bildet sich Einsicht und Urteil. Besonders interessierte Mitglieder erscheinen dann schon mit Ausschnitten und sind dank- bar, wenn ihnen Schriften zu weiteren Studien empfohlen werden. Hat man nun noch Spezialvertreter für einzelne Staaten ge- wonnen, so vertieft sich die Arbeit stetig. Jch denke hierbei an wöchentliche Diskussionsabende während des ganzen Winters. Durch diese mühevolle Arbeit des Vorstandes wird ein Großes erreicht werden: die Stimmrechtlerinnen werden ge- zwungen werden, sorgfältig und gründlich politische Zeitungen zu lesen. Jst dieser Anfang da, so entwickelt sich alles Weitere fast von selbst. Das politische Jnteresse erwacht, es wächst von Monat zu Monat, und endlich ist der Mensch mit allen Kräften seines Wesens dem hinreißenden Spiel der Kräfte ver- schrieben, die ja nichts anderes darstellen als das Werden der Ge- schichte der Gegenwart. Nun wird man vielleicht einwenden, daß viele Frauen zu so eingehenden politischen Studien keine Zeit hätten, und daß viele unserer Männer weit von einem so intensiven Jnteresse entfernt sind. Beides ist richtig. Wir Frauen aber können nicht auf die unpolitische Masse der Männer blicken, wir müssen unsere Kräfte zusammenfassen, Führer, Pioniere, politische Fachleute ausbilden, denn wir sind eine vorwärtsschreitende Armee, die Neuland erobern will und muß. Erfüllt die Stimm-  

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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Texte der ersten Frauenbewegung, betreut von Anna Pfundt und Thomas Gloning, JLU Gießen: Bereitstellung der Texttranskription. (2015-05-11T12:53:44Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Anna Pfundt: Bearbeitung der digitalen Edition. (2015-05-11T12:53:44Z)

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Zitationshilfe: Lischnewska, Maria: Die deutsche Frauenstimmrechtsbewegung zwischen Krieg und Frieden. Berlin, 1915, S. 42. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lischnewska_frauenstimmrechtsbewegung_1915/42>, abgerufen am 03.12.2024.