Ein guter Scribent richtet allezeit seine Augen nach dem Gipfel des Parnasses. Er bemühet sich, den- selben zu ersteigen, und siehet mehr auf diejenigen, die vor ihm her klettern, als auf diejenigen, wel- che noch hinter ihm sind. Ein elender Scribent hergegen macht es gantz anders. Sein von Na- tur schwerer Kopf erlaubt ihm nicht, einen Blick nach den Höhen zu thun, welche die guten Scri- benten sich zu erreichen bestreben. Er schauet un- ter sich. Und weil er dann in den Sümpfen und Abgründen, mit welchen der Parnaß umgeben ist, eine unzählige Menge elender Creaturen er- blicket, die unstreitig noch niedriger stehen, als er; so belustiget er sich an diesem Anblick, und glaubt, er habe den Gipfel des Parnasses würck- lich erstiegen. Es ist also nicht wohl möglich, daß er diejenigen, die er unter sich in den Tiefen wahr- nimmt, vor seines gleichen halten solte. Die ge- ringste Kluft, die zwischen ihm und seinem nech- sten Nachbarn befestiget ist, kömmt ihm, wegen der natürlichen Blödigkeit seines Gesichts, uner- meßlich vor, und macht ihn glauben, er sey un- endlich über ihn erhaben.
Der Parnaß ist just so beschaffen, als die Leib- nitzische Pyramide der möglichen Welten (5). Oberwerts hat er ein Ende, unterwerts nicht. Folglich muß auch der elendeste Scribent immer noch Leute finden, mit denen es noch schlechter be- stellet ist, als mit ihm, und in deren Vergleichung er Ursache hat, mit seinem Zustande vergnügt zu seyn. Jch gestehe, diese süsse Einbildung ist der
Grund
(5)Essais de Theodicee pag. 618.
(o)
Ein guter Scribent richtet allezeit ſeine Augen nach dem Gipfel des Parnaſſes. Er bemuͤhet ſich, den- ſelben zu erſteigen, und ſiehet mehr auf diejenigen, die vor ihm her klettern, als auf diejenigen, wel- che noch hinter ihm ſind. Ein elender Scribent hergegen macht es gantz anders. Sein von Na- tur ſchwerer Kopf erlaubt ihm nicht, einen Blick nach den Hoͤhen zu thun, welche die guten Scri- benten ſich zu erreichen beſtreben. Er ſchauet un- ter ſich. Und weil er dann in den Suͤmpfen und Abgruͤnden, mit welchen der Parnaß umgeben iſt, eine unzaͤhlige Menge elender Creaturen er- blicket, die unſtreitig noch niedriger ſtehen, als er; ſo beluſtiget er ſich an dieſem Anblick, und glaubt, er habe den Gipfel des Parnaſſes wuͤrck- lich erſtiegen. Es iſt alſo nicht wohl moͤglich, daß er diejenigen, die er unter ſich in den Tiefen wahr- nimmt, vor ſeines gleichen halten ſolte. Die ge- ringſte Kluft, die zwiſchen ihm und ſeinem nech- ſten Nachbarn befeſtiget iſt, koͤmmt ihm, wegen der natuͤrlichen Bloͤdigkeit ſeines Geſichts, uner- meßlich vor, und macht ihn glauben, er ſey un- endlich uͤber ihn erhaben.
Der Parnaß iſt juſt ſo beſchaffen, als die Leib- nitziſche Pyramide der moͤglichen Welten (5). Oberwerts hat er ein Ende, unterwerts nicht. Folglich muß auch der elendeſte Scribent immer noch Leute finden, mit denen es noch ſchlechter be- ſtellet iſt, als mit ihm, und in deren Vergleichung er Urſache hat, mit ſeinem Zuſtande vergnuͤgt zu ſeyn. Jch geſtehe, dieſe ſuͤſſe Einbildung iſt der
Grund
(5)Eſſais de Theodicée pag. 618.
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(o)
Ein guter Scribent richtet allezeit ſeine Augen nach
dem Gipfel des Parnaſſes. Er bemuͤhet ſich, den-
ſelben zu erſteigen, und ſiehet mehr auf diejenigen,
die vor ihm her klettern, als auf diejenigen, wel-
che noch hinter ihm ſind. Ein elender Scribent
hergegen macht es gantz anders. Sein von Na-
tur ſchwerer Kopf erlaubt ihm nicht, einen Blick
nach den Hoͤhen zu thun, welche die guten Scri-
benten ſich zu erreichen beſtreben. Er ſchauet un-
ter ſich. Und weil er dann in den Suͤmpfen und
Abgruͤnden, mit welchen der Parnaß umgeben
iſt, eine unzaͤhlige Menge elender Creaturen er-
blicket, die unſtreitig noch niedriger ſtehen, als
er; ſo beluſtiget er ſich an dieſem Anblick, und
glaubt, er habe den Gipfel des Parnaſſes wuͤrck-
lich erſtiegen. Es iſt alſo nicht wohl moͤglich, daß
er diejenigen, die er unter ſich in den Tiefen wahr-
nimmt, vor ſeines gleichen halten ſolte. Die ge-
ringſte Kluft, die zwiſchen ihm und ſeinem nech-
ſten Nachbarn befeſtiget iſt, koͤmmt ihm, wegen
der natuͤrlichen Bloͤdigkeit ſeines Geſichts, uner-
meßlich vor, und macht ihn glauben, er ſey un-
endlich uͤber ihn erhaben.
Der Parnaß iſt juſt ſo beſchaffen, als die Leib-
nitziſche Pyramide der moͤglichen Welten (5).
Oberwerts hat er ein Ende, unterwerts nicht.
Folglich muß auch der elendeſte Scribent immer
noch Leute finden, mit denen es noch ſchlechter be-
ſtellet iſt, als mit ihm, und in deren Vergleichung
er Urſache hat, mit ſeinem Zuſtande vergnuͤgt zu
ſeyn. Jch geſtehe, dieſe ſuͤſſe Einbildung iſt der
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(5) Eſſais de Theodicée pag. 618.
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[Liscow, Christian Ludwig]: Samlung Satyrischer und Ernsthafter Schriften. Frankfurt u. a., 1739, S. 480. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liscow_samlung_1739/572>, abgerufen am 22.11.2024.
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