mehr gewissen Vorurtheilen und Ofenbah- rungen, daran es in der Welt niemahlen ge- fehlet hat, als der sich selbst gelassenen Ver- nunft dieser Leute zuschreiben müsse.
Die Scrupel über das Verderben des Menschen, und die Mühe, die man sich giebt, die Ursache desselben auszugrübeln, haben ihren Grund in dem Begrife, den man sich gemeiniglich von GOTT machet. Man glaubt, GOTT regiere die Welt auf menschliche Weise, und sehe die Fehler der Menschen als wahre Verbrechen an, die er, Kraft seiner Gerechtigkeit, willkührlich stra- fe. Da es nun aber unbillig zu seyn schei- net, den Menschen wegen einer Unvollkom- menheit zu strafen, die ihm angebohren ist, und bey welcher niemand zu kurtz kömmt, als er selbst: So spricht man: Der Mensch sey vollkommen von GOtt erschafen wor- den; habe sich aber muthwillig, durch eine Ubertretung, in das Verderben gestürzet, in welchen er sie ietzo befindet.
Es sind dieses alles unstreitige Wahr- heiten. Allein, gleichwie die Vernunft vor sich nicht im Stande ist, zu erkennen, daß GOtt die Fehler des Menschen, als Uber- tretungen seiner Gesetze, willkürlich strafen werde: So würde man ihr auch zu nahe
thun,
(o)
mehr gewiſſen Vorurtheilen und Ofenbah- rungen, daran es in der Welt niemahlen ge- fehlet hat, als der ſich ſelbſt gelaſſenen Ver- nunft dieſer Leute zuſchreiben muͤſſe.
Die Scrupel uͤber das Verderben des Menſchen, und die Muͤhe, die man ſich giebt, die Urſache deſſelben auszugruͤbeln, haben ihren Grund in dem Begrife, den man ſich gemeiniglich von GOTT machet. Man glaubt, GOTT regiere die Welt auf menſchliche Weiſe, und ſehe die Fehler der Menſchen als wahre Verbrechen an, die er, Kraft ſeiner Gerechtigkeit, willkuͤhrlich ſtra- fe. Da es nun aber unbillig zu ſeyn ſchei- net, den Menſchen wegen einer Unvollkom- menheit zu ſtrafen, die ihm angebohren iſt, und bey welcher niemand zu kurtz koͤmmt, als er ſelbſt: So ſpricht man: Der Menſch ſey vollkommen von GOtt erſchafen wor- den; habe ſich aber muthwillig, durch eine Ubertretung, in das Verderben geſtuͤrzet, in welchen er ſie ietzo befindet.
Es ſind dieſes alles unſtreitige Wahr- heiten. Allein, gleichwie die Vernunft vor ſich nicht im Stande iſt, zu erkennen, daß GOtt die Fehler des Menſchen, als Uber- tretungen ſeiner Geſetze, willkuͤrlich ſtrafen werde: So wuͤrde man ihr auch zu nahe
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(o)
mehr gewiſſen Vorurtheilen und Ofenbah-
rungen, daran es in der Welt niemahlen ge-
fehlet hat, als der ſich ſelbſt gelaſſenen Ver-
nunft dieſer Leute zuſchreiben muͤſſe.
Die Scrupel uͤber das Verderben des
Menſchen, und die Muͤhe, die man ſich
giebt, die Urſache deſſelben auszugruͤbeln,
haben ihren Grund in dem Begrife, den
man ſich gemeiniglich von GOTT machet.
Man glaubt, GOTT regiere die Welt auf
menſchliche Weiſe, und ſehe die Fehler der
Menſchen als wahre Verbrechen an, die er,
Kraft ſeiner Gerechtigkeit, willkuͤhrlich ſtra-
fe. Da es nun aber unbillig zu ſeyn ſchei-
net, den Menſchen wegen einer Unvollkom-
menheit zu ſtrafen, die ihm angebohren iſt,
und bey welcher niemand zu kurtz koͤmmt,
als er ſelbſt: So ſpricht man: Der Menſch
ſey vollkommen von GOtt erſchafen wor-
den; habe ſich aber muthwillig, durch eine
Ubertretung, in das Verderben geſtuͤrzet, in
welchen er ſie ietzo befindet.
Es ſind dieſes alles unſtreitige Wahr-
heiten. Allein, gleichwie die Vernunft
vor ſich nicht im Stande iſt, zu erkennen,
daß GOtt die Fehler des Menſchen, als Uber-
tretungen ſeiner Geſetze, willkuͤrlich ſtrafen
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[Liscow, Christian Ludwig]: Samlung Satyrischer und Ernsthafter Schriften. Frankfurt u. a., 1739, S. 592. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liscow_samlung_1739/684>, abgerufen am 22.11.2024.
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