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[Liscow, Christian Ludwig]: Samlung Satyrischer und Ernsthafter Schriften. Frankfurt u. a., 1739.

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(o)
ren hätten. Man siehet leicht, daß es gar nothwen-
dig gewesen, daß eine solche Creatur, als der Mensch
anfänglich war, mit der Zeit ärger geworden, so wie
sich nach und nach die ursprüngliche Unwissenheit, als
der Grund seiner Unschuld, verlohren. Die ersten
Menschen hatten alle Fähigkeit, so zu werden, als
wir ietzo sind. Die zu ihrer Erhaltung nöthige Be-
gierden, welche sie hatten, waren hinlänglich, oh-
ne allen gewaltsamen Zufall, die Veränderung,
die wir an den Menschen wahrnehmen, zu verur-
sachen. Daß sie gleich anfangs ihre Begierden
nicht mißbrauchten, das machte ihre Dummheit:
Sie enthielten sich vieler Fehler und Laster, die
wir begehen, nicht, wegen ihrer grosser Heiligkeit,
sondern weil sie dieselbe nicht zu begehen wusten.

Und dieses ist die Ursache, warum Seneca den
ersten Menschen den Titel weiser Leute streitig macht.
"Sed, sagt er: (4) quamuis egregia illis vita fue-"
rit, & carens fraude, non fuere sapientes."
. . . . . Non tamen negauerim fuisse"
alti Spiritus viros, &, ut ita dicam, a Diis"
recentes
. . . . Quid ergo? Ignorantia re-"
rum innocentes erant.
Multum autem interest,"
utrum peccare aliquis nolit an nesciat."

Jch bin mit dem, was Seneca sagt, völlig zufrie-
den, und will dem Hrn. Prof. Manzel, wenn er den
Stand der Unschuld eben so erkläret, gerne einräu-
men, daß man denselben aus der Vernunft erkennen
könne. Aber da er sich einen Menschen dichtet, der
ohne alle Schwachheiten, und mit einer unbegreifli-
chen Weißheit und Heiligkeit begabet gewesen: So

muß
(4) Ep. 90.
T t

(o)
ren haͤtten. Man ſiehet leicht, daß es gar nothwen-
dig geweſen, daß eine ſolche Creatur, als der Menſch
anfaͤnglich war, mit der Zeit aͤrger geworden, ſo wie
ſich nach und nach die urſpruͤngliche Unwiſſenheit, als
der Grund ſeiner Unſchuld, verlohren. Die erſten
Menſchen hatten alle Faͤhigkeit, ſo zu werden, als
wir ietzo ſind. Die zu ihrer Erhaltung noͤthige Be-
gierden, welche ſie hatten, waren hinlaͤnglich, oh-
ne allen gewaltſamen Zufall, die Veraͤnderung,
die wir an den Menſchen wahrnehmen, zu verur-
ſachen. Daß ſie gleich anfangs ihre Begierden
nicht mißbrauchten, das machte ihre Dummheit:
Sie enthielten ſich vieler Fehler und Laſter, die
wir begehen, nicht, wegen ihrer groſſer Heiligkeit,
ſondern weil ſie dieſelbe nicht zu begehen wuſten.

Und dieſes iſt die Urſache, warum Seneca den
erſten Menſchen den Titel weiſer Leute ſtreitig macht.
„Sed, ſagt er: (4) quamuis egregia illis vita fue-„
rit, & carens fraude, non fuere ſapientes.„
. . . . . Non tamen negauerim fuiſſe„
alti Spiritus viros, &, ut ita dicam, à Diis„
recentes
. . . . Quid ergo? Ignorantia re-„
rum innocentes erant.
Multum autem intereſt,„
utrum peccare aliquis nolit an neſciat.„

Jch bin mit dem, was Seneca ſagt, voͤllig zufrie-
den, und will dem Hrn. Prof. Manzel, wenn er den
Stand der Unſchuld eben ſo erklaͤret, gerne einraͤu-
men, daß man denſelben aus der Vernunft erkennen
koͤnne. Aber da er ſich einen Menſchen dichtet, der
ohne alle Schwachheiten, und mit einer unbegreifli-
chen Weißheit und Heiligkeit begabet geweſen: So

muß
(4) Ep. 90.
T t
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[657/0749] (o) ren haͤtten. Man ſiehet leicht, daß es gar nothwen- dig geweſen, daß eine ſolche Creatur, als der Menſch anfaͤnglich war, mit der Zeit aͤrger geworden, ſo wie ſich nach und nach die urſpruͤngliche Unwiſſenheit, als der Grund ſeiner Unſchuld, verlohren. Die erſten Menſchen hatten alle Faͤhigkeit, ſo zu werden, als wir ietzo ſind. Die zu ihrer Erhaltung noͤthige Be- gierden, welche ſie hatten, waren hinlaͤnglich, oh- ne allen gewaltſamen Zufall, die Veraͤnderung, die wir an den Menſchen wahrnehmen, zu verur- ſachen. Daß ſie gleich anfangs ihre Begierden nicht mißbrauchten, das machte ihre Dummheit: Sie enthielten ſich vieler Fehler und Laſter, die wir begehen, nicht, wegen ihrer groſſer Heiligkeit, ſondern weil ſie dieſelbe nicht zu begehen wuſten. Und dieſes iſt die Urſache, warum Seneca den erſten Menſchen den Titel weiſer Leute ſtreitig macht. „Sed, ſagt er: (4) quamuis egregia illis vita fue-„ rit, & carens fraude, non fuere ſapientes.„ . . . . . Non tamen negauerim fuiſſe„ alti Spiritus viros, &, ut ita dicam, à Diis„ recentes. . . . Quid ergo? Ignorantia re-„ rum innocentes erant. Multum autem intereſt,„ utrum peccare aliquis nolit an neſciat.„ Jch bin mit dem, was Seneca ſagt, voͤllig zufrie- den, und will dem Hrn. Prof. Manzel, wenn er den Stand der Unſchuld eben ſo erklaͤret, gerne einraͤu- men, daß man denſelben aus der Vernunft erkennen koͤnne. Aber da er ſich einen Menſchen dichtet, der ohne alle Schwachheiten, und mit einer unbegreifli- chen Weißheit und Heiligkeit begabet geweſen: So muß (4) Ep. 90. T t

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Zitationshilfe: [Liscow, Christian Ludwig]: Samlung Satyrischer und Ernsthafter Schriften. Frankfurt u. a., 1739, S. 657. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liscow_samlung_1739/749>, abgerufen am 22.11.2024.