Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Liszt, Franz von: Das deutsche Reichsstrafrecht. Berlin u. a., 1881.

Bild:
<< vorherige Seite
Einleitung. II. Das Strafgesetz.

III. Gesetz ist der erklärte Wille der Gesammtheit;
nicht der nicht erklärte Wille, und nicht die nichtgewollte
Erklärung. Die Erklärung erfolgt nicht durch die Publi-
kation (a. A. Binding), sondern durch die Abstimmung
Seitens des Reichstages und Bundesrates, durch die Aus-
fertigung
seitens des Kaisers.

Darnach haben wir die sog. Redaktionsversehen zu
beurteilen.5 Von Redaktionsversehen spricht man, wenn der er-
klärte Wille selbst auf einem Irrtume beruht. Da das Erklärte
gewollt und das Gewollte erklärt ist, liegt ein die Rechtsgenossen
bindendes Gesetz vor, das nur durch Gesetz wieder beseitigt
werden kann.6 Verschieden davon ist die Nichtübereinstim-
mung zwischen dem Texte der Kundmachung und jenem der
sanktionirten Beschlüsse.7 Die irrtümlich kundgemachte Be-
stimmung ist nicht Gesetz, aber auch nicht der zwar sanktio-
nirte aber nicht kundgemachte Beschluß.8 Doch kann durch
eine neue berichtigende Publikation diesem Mangel abgeholfen
werden.

Aus dem Gesagten folgt, daß die sog. "Materialien" der
Gesetze insbes. Motive und Kammerverhandlungen nur mit
äußerster Vorsicht als Interpretationsmittel verwertet werden
können. Sie sind nicht erklärter Wille der Gesammtheit,
sondern geben uns im günstigsten Falle die Beweggründe,
welche einzelne Mitglieder des einen der gesetzgebenden Fak-
toren zu ihrer Willenserklärung bestimmt haben.

5 [Spaltenumbruch] Lit. bei Binding Grund-
riß S. 41.
6 [Spaltenumbruch] Die Novelle v. 26. Febr.
1876 hat eine Anzahl solcher RV.
beseitigt.
7 [Spaltenumbruch] Der Ausdruck "Druckfehler"
ist zur Bezeichnung dieser Fälle
zu eng.
8 [Spaltenumbruch] A. A. Binding Grundr.
S. 42.
Einleitung. II. Das Strafgeſetz.

III. Geſetz iſt der erklärte Wille der Geſammtheit;
nicht der nicht erklärte Wille, und nicht die nichtgewollte
Erklärung. Die Erklärung erfolgt nicht durch die Publi-
kation (a. A. Binding), ſondern durch die Abſtimmung
Seitens des Reichstages und Bundesrates, durch die Aus-
fertigung
ſeitens des Kaiſers.

Darnach haben wir die ſog. Redaktionsverſehen zu
beurteilen.5 Von Redaktionsverſehen ſpricht man, wenn der er-
klärte Wille ſelbſt auf einem Irrtume beruht. Da das Erklärte
gewollt und das Gewollte erklärt iſt, liegt ein die Rechtsgenoſſen
bindendes Geſetz vor, das nur durch Geſetz wieder beſeitigt
werden kann.6 Verſchieden davon iſt die Nichtübereinſtim-
mung zwiſchen dem Texte der Kundmachung und jenem der
ſanktionirten Beſchlüſſe.7 Die irrtümlich kundgemachte Be-
ſtimmung iſt nicht Geſetz, aber auch nicht der zwar ſanktio-
nirte aber nicht kundgemachte Beſchluß.8 Doch kann durch
eine neue berichtigende Publikation dieſem Mangel abgeholfen
werden.

Aus dem Geſagten folgt, daß die ſog. „Materialien“ der
Geſetze insbeſ. Motive und Kammerverhandlungen nur mit
äußerſter Vorſicht als Interpretationsmittel verwertet werden
können. Sie ſind nicht erklärter Wille der Geſammtheit,
ſondern geben uns im günſtigſten Falle die Beweggründe,
welche einzelne Mitglieder des einen der geſetzgebenden Fak-
toren zu ihrer Willenserklärung beſtimmt haben.

5 [Spaltenumbruch] Lit. bei Binding Grund-
riß S. 41.
6 [Spaltenumbruch] Die Novelle v. 26. Febr.
1876 hat eine Anzahl ſolcher RV.
beſeitigt.
7 [Spaltenumbruch] Der Ausdruck „Druckfehler“
iſt zur Bezeichnung dieſer Fälle
zu eng.
8 [Spaltenumbruch] A. A. Binding Grundr.
S. 42.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0052" n="26"/>
            <fw place="top" type="header">Einleitung. <hi rendition="#aq">II.</hi> Das Strafge&#x017F;etz.</fw><lb/>
            <p><hi rendition="#aq">III.</hi> Ge&#x017F;etz i&#x017F;t der <hi rendition="#g">erklärte Wille</hi> der Ge&#x017F;ammtheit;<lb/>
nicht der <hi rendition="#g">nicht erklärte</hi> Wille, und nicht die <hi rendition="#g">nichtgewollte</hi><lb/>
Erklärung. Die Erklärung erfolgt nicht durch die Publi-<lb/>
kation (a. A. <hi rendition="#g">Binding</hi>), &#x017F;ondern durch die <hi rendition="#g">Ab&#x017F;timmung</hi><lb/>
Seitens des Reichstages und Bundesrates, durch die <hi rendition="#g">Aus-<lb/>
fertigung</hi> &#x017F;eitens des Kai&#x017F;ers.</p><lb/>
            <p>Darnach haben wir die &#x017F;og. <hi rendition="#g">Redaktionsver&#x017F;ehen</hi> zu<lb/>
beurteilen.<note place="foot" n="5"><cb/>
Lit. bei <hi rendition="#g">Binding</hi> Grund-<lb/>
riß S. 41.</note> Von Redaktionsver&#x017F;ehen &#x017F;pricht man, wenn der er-<lb/>
klärte Wille &#x017F;elb&#x017F;t auf einem Irrtume beruht. Da das Erklärte<lb/>
gewollt und das Gewollte erklärt i&#x017F;t, liegt ein die Rechtsgeno&#x017F;&#x017F;en<lb/>
bindendes Ge&#x017F;etz vor, das nur durch Ge&#x017F;etz wieder be&#x017F;eitigt<lb/>
werden kann.<note place="foot" n="6"><cb/>
Die Novelle v. 26. Febr.<lb/>
1876 hat eine Anzahl &#x017F;olcher RV.<lb/>
be&#x017F;eitigt.</note> Ver&#x017F;chieden davon i&#x017F;t die Nichtüberein&#x017F;tim-<lb/>
mung zwi&#x017F;chen dem Texte der Kundmachung und jenem der<lb/>
&#x017F;anktionirten Be&#x017F;chlü&#x017F;&#x017F;e.<note place="foot" n="7"><cb/>
Der Ausdruck &#x201E;Druckfehler&#x201C;<lb/>
i&#x017F;t zur Bezeichnung die&#x017F;er Fälle<lb/>
zu eng.</note> Die irrtümlich kundgemachte Be-<lb/>
&#x017F;timmung i&#x017F;t nicht Ge&#x017F;etz, aber auch nicht der zwar &#x017F;anktio-<lb/>
nirte aber nicht kundgemachte Be&#x017F;chluß.<note place="foot" n="8"><cb/>
A. A. <hi rendition="#g">Binding</hi> Grundr.<lb/>
S. 42.</note> Doch kann durch<lb/>
eine neue berichtigende Publikation die&#x017F;em Mangel abgeholfen<lb/>
werden.</p><lb/>
            <p>Aus dem Ge&#x017F;agten folgt, daß die &#x017F;og. &#x201E;Materialien&#x201C; der<lb/>
Ge&#x017F;etze insbe&#x017F;. Motive und Kammerverhandlungen nur mit<lb/>
äußer&#x017F;ter Vor&#x017F;icht als Interpretationsmittel verwertet werden<lb/>
können. Sie &#x017F;ind nicht erklärter Wille der Ge&#x017F;ammtheit,<lb/>
&#x017F;ondern geben uns im gün&#x017F;tig&#x017F;ten Falle die Beweggründe,<lb/>
welche einzelne Mitglieder des einen der ge&#x017F;etzgebenden Fak-<lb/>
toren zu <hi rendition="#g">ihrer</hi> Willenserklärung be&#x017F;timmt haben.</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[26/0052] Einleitung. II. Das Strafgeſetz. III. Geſetz iſt der erklärte Wille der Geſammtheit; nicht der nicht erklärte Wille, und nicht die nichtgewollte Erklärung. Die Erklärung erfolgt nicht durch die Publi- kation (a. A. Binding), ſondern durch die Abſtimmung Seitens des Reichstages und Bundesrates, durch die Aus- fertigung ſeitens des Kaiſers. Darnach haben wir die ſog. Redaktionsverſehen zu beurteilen. 5 Von Redaktionsverſehen ſpricht man, wenn der er- klärte Wille ſelbſt auf einem Irrtume beruht. Da das Erklärte gewollt und das Gewollte erklärt iſt, liegt ein die Rechtsgenoſſen bindendes Geſetz vor, das nur durch Geſetz wieder beſeitigt werden kann. 6 Verſchieden davon iſt die Nichtübereinſtim- mung zwiſchen dem Texte der Kundmachung und jenem der ſanktionirten Beſchlüſſe. 7 Die irrtümlich kundgemachte Be- ſtimmung iſt nicht Geſetz, aber auch nicht der zwar ſanktio- nirte aber nicht kundgemachte Beſchluß. 8 Doch kann durch eine neue berichtigende Publikation dieſem Mangel abgeholfen werden. Aus dem Geſagten folgt, daß die ſog. „Materialien“ der Geſetze insbeſ. Motive und Kammerverhandlungen nur mit äußerſter Vorſicht als Interpretationsmittel verwertet werden können. Sie ſind nicht erklärter Wille der Geſammtheit, ſondern geben uns im günſtigſten Falle die Beweggründe, welche einzelne Mitglieder des einen der geſetzgebenden Fak- toren zu ihrer Willenserklärung beſtimmt haben. 5 Lit. bei Binding Grund- riß S. 41. 6 Die Novelle v. 26. Febr. 1876 hat eine Anzahl ſolcher RV. beſeitigt. 7 Der Ausdruck „Druckfehler“ iſt zur Bezeichnung dieſer Fälle zu eng. 8 A. A. Binding Grundr. S. 42.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/liszt_reichsstrafrecht_1881
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/liszt_reichsstrafrecht_1881/52
Zitationshilfe: Liszt, Franz von: Das deutsche Reichsstrafrecht. Berlin u. a., 1881, S. 26. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liszt_reichsstrafrecht_1881/52>, abgerufen am 18.12.2024.