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Liszt, Franz von: Das Völkerrecht. Berlin, 1898.

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II. Buch. Der völkerrechtl. Verkehr der Staaten im allgemeinen.

Sie können weder an andere Staaten abgetreten, noch an
Privatpersonen oder Gesellschaften zur Ausübung überlassen werden.
Dasselbe gilt von den völkerrechtlichen Verpflichtungen.

R. G. I 290.

§ 20. Die rechtserheblichen Thatsachen.
I.

Rechtserhebliche Thatsachen sind diejenigen Thatsachen, an
deren Vorliegen Entstehung, Untergang oder Veränderung von völker-
rechtlichen Rechtsverhältnissen geknüpft ist.

Jene Thatsachen sind entweder:

1. Natürliche Thatsachen, deren Eintritt von menschlicher
Willkür unabhängig ist.

Beispiele von solchen Thatsachen, durch welche Entstehung
oder Untergang von Staaten oder aber Gebietsveränderungen inner-
halb der bestehenden Staaten bewirkt werden, sind bereits oben
§ 5 III und § 10 I gegeben worden.

Zu den natürlichen Thatsachen gehört im Gebiete des nationalen
Rechts auch der Ablauf der Zeit. Auf dem Gebiet des Völkerrechts muss
aber der rechtbegründende oder rechtvernichtende Einfluss der Zeit in
Abrede gestellt werden. Die Verjährung hat völkerrechtlich weder
als acquisitive (insbesondere als Ersitzung) noch als extinctive die Kraft
einer rechtserheblichen Thatsache.

Die Rechtfertigung dieses auf den ersten Blick auffallenden
(in der Litteratur auch sehr bestrittenen) Satzes liegt in einem
doppelten: a) in der Bedeutung, die der stillschweigenden Zustim-
mung desjenigen Staates, der durch eine Verschiebung der völker-
rechtlichen Beziehungen in seinen Interessen betroffen wird, zu-
kommt (unten II 2); b) in der unmittelbar rechtbegründenden
Wirkung, die auf dem Gebiete des Völkerrechts die Gewalt, ins-
besondere als Eroberung, hat (darüber unten § 23 I). Die kriege-
rische Erwerbung eines fremden Staatsgebietes erstreckt, ganz ab-
gesehen von dem Friedensvertrage, die Staatsgewalt des erobern-
den Staates ohne weiteres auch auf das neu erworbene Gebiet,
ohne dass es einer Ersitzung im Sinne des Privatrechts bedarf; und
wenn ein Staat zulässt, dass seine Kolonieen von einem andern

II. Buch. Der völkerrechtl. Verkehr der Staaten im allgemeinen.

Sie können weder an andere Staaten abgetreten, noch an
Privatpersonen oder Gesellschaften zur Ausübung überlassen werden.
Dasselbe gilt von den völkerrechtlichen Verpflichtungen.

R. G. I 290.

§ 20. Die rechtserheblichen Thatsachen.
I.

Rechtserhebliche Thatsachen sind diejenigen Thatsachen, an
deren Vorliegen Entstehung, Untergang oder Veränderung von völker-
rechtlichen Rechtsverhältnissen geknüpft ist.

Jene Thatsachen sind entweder:

1. Natürliche Thatsachen, deren Eintritt von menschlicher
Willkür unabhängig ist.

Beispiele von solchen Thatsachen, durch welche Entstehung
oder Untergang von Staaten oder aber Gebietsveränderungen inner-
halb der bestehenden Staaten bewirkt werden, sind bereits oben
§ 5 III und § 10 I gegeben worden.

Zu den natürlichen Thatsachen gehört im Gebiete des nationalen
Rechts auch der Ablauf der Zeit. Auf dem Gebiet des Völkerrechts muſs
aber der rechtbegründende oder rechtvernichtende Einfluſs der Zeit in
Abrede gestellt werden. Die Verjährung hat völkerrechtlich weder
als acquisitive (insbesondere als Ersitzung) noch als extinctive die Kraft
einer rechtserheblichen Thatsache.

Die Rechtfertigung dieses auf den ersten Blick auffallenden
(in der Litteratur auch sehr bestrittenen) Satzes liegt in einem
doppelten: a) in der Bedeutung, die der stillschweigenden Zustim-
mung desjenigen Staates, der durch eine Verschiebung der völker-
rechtlichen Beziehungen in seinen Interessen betroffen wird, zu-
kommt (unten II 2); b) in der unmittelbar rechtbegründenden
Wirkung, die auf dem Gebiete des Völkerrechts die Gewalt, ins-
besondere als Eroberung, hat (darüber unten § 23 I). Die kriege-
rische Erwerbung eines fremden Staatsgebietes erstreckt, ganz ab-
gesehen von dem Friedensvertrage, die Staatsgewalt des erobern-
den Staates ohne weiteres auch auf das neu erworbene Gebiet,
ohne daſs es einer Ersitzung im Sinne des Privatrechts bedarf; und
wenn ein Staat zuläſst, daſs seine Kolonieen von einem andern

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[108/0130] II. Buch. Der völkerrechtl. Verkehr der Staaten im allgemeinen. Sie können weder an andere Staaten abgetreten, noch an Privatpersonen oder Gesellschaften zur Ausübung überlassen werden. Dasselbe gilt von den völkerrechtlichen Verpflichtungen. R. G. I 290. § 20. Die rechtserheblichen Thatsachen. I. Rechtserhebliche Thatsachen sind diejenigen Thatsachen, an deren Vorliegen Entstehung, Untergang oder Veränderung von völker- rechtlichen Rechtsverhältnissen geknüpft ist. Jene Thatsachen sind entweder: 1. Natürliche Thatsachen, deren Eintritt von menschlicher Willkür unabhängig ist. Beispiele von solchen Thatsachen, durch welche Entstehung oder Untergang von Staaten oder aber Gebietsveränderungen inner- halb der bestehenden Staaten bewirkt werden, sind bereits oben § 5 III und § 10 I gegeben worden. Zu den natürlichen Thatsachen gehört im Gebiete des nationalen Rechts auch der Ablauf der Zeit. Auf dem Gebiet des Völkerrechts muſs aber der rechtbegründende oder rechtvernichtende Einfluſs der Zeit in Abrede gestellt werden. Die Verjährung hat völkerrechtlich weder als acquisitive (insbesondere als Ersitzung) noch als extinctive die Kraft einer rechtserheblichen Thatsache. Die Rechtfertigung dieses auf den ersten Blick auffallenden (in der Litteratur auch sehr bestrittenen) Satzes liegt in einem doppelten: a) in der Bedeutung, die der stillschweigenden Zustim- mung desjenigen Staates, der durch eine Verschiebung der völker- rechtlichen Beziehungen in seinen Interessen betroffen wird, zu- kommt (unten II 2); b) in der unmittelbar rechtbegründenden Wirkung, die auf dem Gebiete des Völkerrechts die Gewalt, ins- besondere als Eroberung, hat (darüber unten § 23 I). Die kriege- rische Erwerbung eines fremden Staatsgebietes erstreckt, ganz ab- gesehen von dem Friedensvertrage, die Staatsgewalt des erobern- den Staates ohne weiteres auch auf das neu erworbene Gebiet, ohne daſs es einer Ersitzung im Sinne des Privatrechts bedarf; und wenn ein Staat zuläſst, daſs seine Kolonieen von einem andern

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Zitationshilfe: Liszt, Franz von: Das Völkerrecht. Berlin, 1898, S. 108. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liszt_voelkerrecht_1898/130>, abgerufen am 21.11.2024.