1. In Ausübung seiner Autonomie darf der Staat nicht über- sehen, dass er nicht isoliert dasteht, sondern Glied einer grossen Ge- meinschaft gleichberechtigter Rechtsgenossen ist. (Interdependance, oben § 1 I). Er hat daher Kollisionen mit der Autonomie der andern Staaten zu vermeiden.
Hier liegt der Berührungspunkt zwischen dem Völkerrecht und dem sogenannten internationalen öffentlichen und Privatrecht (oben § 1 I). Die Lösung der Statutenkollision, die nicht nur im Privatrecht und im Strafrecht, sondern auf allen Gebieten der Ge- setzgebung ohne jede Ausnahme von Wichtigkeit werden kann, ist zweifellos zunächst Aufgabe eines jeden einzelnen Staates. Durch seine nationale Gesetzgebung hat er zu bestimmen, ob im einzelnen Fall inländisches oder ausländisches Recht zur Anwendung kommen soll. Aber die ausnahmslose Anwendung des inländischen Rechtes auf alle zur Beurteilung der nationalen Behörden gelangenden Rechtsverhältnisse, also die uneingeschränkte Durchführung des Territorialprinzips, würde im Widerspruch stehen mit dem Grund- gedanken des Völkerrechts selbst: mit der Anerkennung der Gleich- berechtigung aller Mitglieder der Völkerrechtsgemeinschaft; und sie würde im Widerspruch stehen mit den Bedürfnissen des inter- nationalen Verkehrs, insbesondere des Handelsverkehrs. In der That bringt kein einziger Staat heute ausnahmslos sein heimisches Recht zur Anwendung. Jeder Staat schreibt vielmehr unter ge- wissen Voraussetzungen die Anwendung des ausländischen Rechtes vor, mag es sich um die persönliche Rechtsfähigkeit eines Aus- länders oder um ein dingliches Recht an einer im Auslande ge- legenen Sache oder um die Gültigkeit eines im Ausland geschlossenen Vertrages u. s. w. handeln. Diese Grundsätze, durch welche die Ent- scheidung über die "Konflikte" des inländischen mit dem ausländischen Recht, über die "Kollision der Statuten", bestimmt wird, hat die nationale Gesetzgebung ausdrücklich oder stillschweigend aufzustellen. Aber sie hat bei Aufstellung derselben die Coexistenz der mit ihr gleichberechtigten ausländischen Staaten ins Auge zu fassen.
§ 8. Die Souveränität als innere Unabhängigkeit.
Jedoch ist zu beachten:
1. In Ausübung seiner Autonomie darf der Staat nicht über- sehen, daſs er nicht isoliert dasteht, sondern Glied einer groſsen Ge- meinschaft gleichberechtigter Rechtsgenossen ist. (Interdépendance, oben § 1 I). Er hat daher Kollisionen mit der Autonomie der andern Staaten zu vermeiden.
Hier liegt der Berührungspunkt zwischen dem Völkerrecht und dem sogenannten internationalen öffentlichen und Privatrecht (oben § 1 I). Die Lösung der Statutenkollision, die nicht nur im Privatrecht und im Strafrecht, sondern auf allen Gebieten der Ge- setzgebung ohne jede Ausnahme von Wichtigkeit werden kann, ist zweifellos zunächst Aufgabe eines jeden einzelnen Staates. Durch seine nationale Gesetzgebung hat er zu bestimmen, ob im einzelnen Fall inländisches oder ausländisches Recht zur Anwendung kommen soll. Aber die ausnahmslose Anwendung des inländischen Rechtes auf alle zur Beurteilung der nationalen Behörden gelangenden Rechtsverhältnisse, also die uneingeschränkte Durchführung des Territorialprinzips, würde im Widerspruch stehen mit dem Grund- gedanken des Völkerrechts selbst: mit der Anerkennung der Gleich- berechtigung aller Mitglieder der Völkerrechtsgemeinschaft; und sie würde im Widerspruch stehen mit den Bedürfnissen des inter- nationalen Verkehrs, insbesondere des Handelsverkehrs. In der That bringt kein einziger Staat heute ausnahmslos sein heimisches Recht zur Anwendung. Jeder Staat schreibt vielmehr unter ge- wissen Voraussetzungen die Anwendung des ausländischen Rechtes vor, mag es sich um die persönliche Rechtsfähigkeit eines Aus- länders oder um ein dingliches Recht an einer im Auslande ge- legenen Sache oder um die Gültigkeit eines im Ausland geschlossenen Vertrages u. s. w. handeln. Diese Grundsätze, durch welche die Ent- scheidung über die „Konflikte“ des inländischen mit dem ausländischen Recht, über die „Kollision der Statuten“, bestimmt wird, hat die nationale Gesetzgebung ausdrücklich oder stillschweigend aufzustellen. Aber sie hat bei Aufstellung derselben die Coexistenz der mit ihr gleichberechtigten ausländischen Staaten ins Auge zu fassen.
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§ 8. Die Souveränität als innere Unabhängigkeit.
Jedoch ist zu beachten:
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sehen, daſs er nicht isoliert dasteht, sondern Glied einer groſsen Ge-
meinschaft gleichberechtigter Rechtsgenossen ist. (Interdépendance,
oben § 1 I). Er hat daher Kollisionen mit der Autonomie der
andern Staaten zu vermeiden.
Hier liegt der Berührungspunkt zwischen dem Völkerrecht
und dem sogenannten internationalen öffentlichen und Privatrecht
(oben § 1 I). Die Lösung der Statutenkollision, die nicht nur im
Privatrecht und im Strafrecht, sondern auf allen Gebieten der Ge-
setzgebung ohne jede Ausnahme von Wichtigkeit werden kann, ist
zweifellos zunächst Aufgabe eines jeden einzelnen Staates. Durch
seine nationale Gesetzgebung hat er zu bestimmen, ob im einzelnen
Fall inländisches oder ausländisches Recht zur Anwendung kommen
soll. Aber die ausnahmslose Anwendung des inländischen Rechtes
auf alle zur Beurteilung der nationalen Behörden gelangenden
Rechtsverhältnisse, also die uneingeschränkte Durchführung des
Territorialprinzips, würde im Widerspruch stehen mit dem Grund-
gedanken des Völkerrechts selbst: mit der Anerkennung der Gleich-
berechtigung aller Mitglieder der Völkerrechtsgemeinschaft; und
sie würde im Widerspruch stehen mit den Bedürfnissen des inter-
nationalen Verkehrs, insbesondere des Handelsverkehrs. In der
That bringt kein einziger Staat heute ausnahmslos sein heimisches
Recht zur Anwendung. Jeder Staat schreibt vielmehr unter ge-
wissen Voraussetzungen die Anwendung des ausländischen Rechtes
vor, mag es sich um die persönliche Rechtsfähigkeit eines Aus-
länders oder um ein dingliches Recht an einer im Auslande ge-
legenen Sache oder um die Gültigkeit eines im Ausland geschlossenen
Vertrages u. s. w. handeln. Diese Grundsätze, durch welche die Ent-
scheidung über die „Konflikte“ des inländischen mit dem ausländischen
Recht, über die „Kollision der Statuten“, bestimmt wird, hat die
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Aber sie hat bei Aufstellung derselben die Coexistenz der mit ihr
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Liszt, Franz von: Das Völkerrecht. Berlin, 1898, S. 41. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liszt_voelkerrecht_1898/63>, abgerufen am 17.07.2024.
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