§. 2. (Die Erde ist keine Ebene, und hat keine Unterstützung). Es genügte vielleicht schon eine geringe Aufmerksamkeit, die Un- richtigkeit der oben angeführten Ansicht, einer nach allen Seiten ihrer Gränzen ausgebreiteten ebenen Erde, mit der sicheren Grundlage unter ihr, auf der sie, wie man wähnte, ruhen sollte, zu bemerken. Man sah täglich die Sonne im Osten auf- und im Westen untergehen, und konnte doch nicht zweifeln, daß es immer dieselbe Sonne ist, welche dieses Schauspiel mit jedem neuen Tage vor uns aufführt! -- Wo war sie aber während der Nacht? und was geht mit dem Monde und mit allen anderen Gestirnen des Himmels vor, die uns ebenfalls täglich im Westen verschwin- den, um bald darauf im Osten wieder sichtbar zu werden? Sie sind doch offenbar dieselben, die wir gestern, die wir alle Tage schon gesehen haben. -- Sie müssen also wohl unter uns, unter der Erde durchgegangen seyn, so daß wir von den Kreisen, die sie um uns beschreiben, nur denjenigen Theil erblicken, der über der Erde steht, während der andere Theil derselben, der auf der anderen Seite, unter der Erde liegt, uns von dieser Erde selbst bedeckt, und daher für uns unsichtbar ist. Die Erde kann also erstens kein endlos ausgedehnter Körper seyn, wie wir anfangs glaubten, sondern sie muß, so groß sie auch übrigens seyn mag, doch immer in bestimmte Gränzen eingeschlossen seyn, weil sonst jene Gestirne nicht um sie gehen könnten.
Auch werden wir wohl zweitens den Glauben an ihren festen Stand, an die sichere Unterlage, auf der sie ruhen soll, aufgeben müssen, so sehr wir auch gewohnt seyn mögen, die Erde als das Symbol der Festigkeit zu betrachten, und so sicher wir uns auch bisher dünken mochten, wenn wir nur unseren Fuß auf die "dauernde, und wohlbegründete Erde" setzen konnten. Denn welcher Art sollte jene Unterlage wohl seyn, wenn sie die ganze schwere Erde tragen, und nicht selbst wieder einer anderen Unter- lage bedürfen sollte, und worauf sollte die letzte aller dieser Unter- lagen selbst ruhen? Jene Gestirne endlich, wenn sie, wie wir gesehen haben, ihre Bahnen unter der Erde fortsetzen, sollen sie jene Unterlage vermeiden, oder durchbrechen, oder in zahllosen Kanälen sich ihre Wege durch dieses Hinderniß bahnen? -- Wir werden also wohl auch diese ganze Unterlage aufgeben, und an-
Geſtalt der Erde.
§. 2. (Die Erde iſt keine Ebene, und hat keine Unterſtützung). Es genügte vielleicht ſchon eine geringe Aufmerkſamkeit, die Un- richtigkeit der oben angeführten Anſicht, einer nach allen Seiten ihrer Gränzen ausgebreiteten ebenen Erde, mit der ſicheren Grundlage unter ihr, auf der ſie, wie man wähnte, ruhen ſollte, zu bemerken. Man ſah täglich die Sonne im Oſten auf- und im Weſten untergehen, und konnte doch nicht zweifeln, daß es immer dieſelbe Sonne iſt, welche dieſes Schauſpiel mit jedem neuen Tage vor uns aufführt! — Wo war ſie aber während der Nacht? und was geht mit dem Monde und mit allen anderen Geſtirnen des Himmels vor, die uns ebenfalls täglich im Weſten verſchwin- den, um bald darauf im Oſten wieder ſichtbar zu werden? Sie ſind doch offenbar dieſelben, die wir geſtern, die wir alle Tage ſchon geſehen haben. — Sie müſſen alſo wohl unter uns, unter der Erde durchgegangen ſeyn, ſo daß wir von den Kreiſen, die ſie um uns beſchreiben, nur denjenigen Theil erblicken, der über der Erde ſteht, während der andere Theil derſelben, der auf der anderen Seite, unter der Erde liegt, uns von dieſer Erde ſelbſt bedeckt, und daher für uns unſichtbar iſt. Die Erde kann alſo erſtens kein endlos ausgedehnter Körper ſeyn, wie wir anfangs glaubten, ſondern ſie muß, ſo groß ſie auch übrigens ſeyn mag, doch immer in beſtimmte Gränzen eingeſchloſſen ſeyn, weil ſonſt jene Geſtirne nicht um ſie gehen könnten.
Auch werden wir wohl zweitens den Glauben an ihren feſten Stand, an die ſichere Unterlage, auf der ſie ruhen ſoll, aufgeben müſſen, ſo ſehr wir auch gewohnt ſeyn mögen, die Erde als das Symbol der Feſtigkeit zu betrachten, und ſo ſicher wir uns auch bisher dünken mochten, wenn wir nur unſeren Fuß auf die „dauernde, und wohlbegründete Erde“ ſetzen konnten. Denn welcher Art ſollte jene Unterlage wohl ſeyn, wenn ſie die ganze ſchwere Erde tragen, und nicht ſelbſt wieder einer anderen Unter- lage bedürfen ſollte, und worauf ſollte die letzte aller dieſer Unter- lagen ſelbſt ruhen? Jene Geſtirne endlich, wenn ſie, wie wir geſehen haben, ihre Bahnen unter der Erde fortſetzen, ſollen ſie jene Unterlage vermeiden, oder durchbrechen, oder in zahlloſen Kanälen ſich ihre Wege durch dieſes Hinderniß bahnen? — Wir werden alſo wohl auch dieſe ganze Unterlage aufgeben, und an-
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Geſtalt der Erde.
§. 2. (Die Erde iſt keine Ebene, und hat keine Unterſtützung).
Es genügte vielleicht ſchon eine geringe Aufmerkſamkeit, die Un-
richtigkeit der oben angeführten Anſicht, einer nach allen Seiten
ihrer Gränzen ausgebreiteten ebenen Erde, mit der ſicheren
Grundlage unter ihr, auf der ſie, wie man wähnte, ruhen ſollte,
zu bemerken. Man ſah täglich die Sonne im Oſten auf- und im
Weſten untergehen, und konnte doch nicht zweifeln, daß es immer
dieſelbe Sonne iſt, welche dieſes Schauſpiel mit jedem neuen
Tage vor uns aufführt! — Wo war ſie aber während der Nacht?
und was geht mit dem Monde und mit allen anderen Geſtirnen
des Himmels vor, die uns ebenfalls täglich im Weſten verſchwin-
den, um bald darauf im Oſten wieder ſichtbar zu werden? Sie ſind
doch offenbar dieſelben, die wir geſtern, die wir alle Tage
ſchon geſehen haben. — Sie müſſen alſo wohl unter uns, unter
der Erde durchgegangen ſeyn, ſo daß wir von den Kreiſen, die
ſie um uns beſchreiben, nur denjenigen Theil erblicken, der über
der Erde ſteht, während der andere Theil derſelben, der auf der
anderen Seite, unter der Erde liegt, uns von dieſer Erde ſelbſt
bedeckt, und daher für uns unſichtbar iſt. Die Erde kann alſo
erſtens kein endlos ausgedehnter Körper ſeyn, wie wir anfangs
glaubten, ſondern ſie muß, ſo groß ſie auch übrigens ſeyn mag,
doch immer in beſtimmte Gränzen eingeſchloſſen ſeyn, weil ſonſt
jene Geſtirne nicht um ſie gehen könnten.
Auch werden wir wohl zweitens den Glauben an ihren feſten
Stand, an die ſichere Unterlage, auf der ſie ruhen ſoll, aufgeben
müſſen, ſo ſehr wir auch gewohnt ſeyn mögen, die Erde als das
Symbol der Feſtigkeit zu betrachten, und ſo ſicher wir uns auch
bisher dünken mochten, wenn wir nur unſeren Fuß auf die
„dauernde, und wohlbegründete Erde“ ſetzen konnten. Denn
welcher Art ſollte jene Unterlage wohl ſeyn, wenn ſie die ganze
ſchwere Erde tragen, und nicht ſelbſt wieder einer anderen Unter-
lage bedürfen ſollte, und worauf ſollte die letzte aller dieſer Unter-
lagen ſelbſt ruhen? Jene Geſtirne endlich, wenn ſie, wie wir
geſehen haben, ihre Bahnen unter der Erde fortſetzen, ſollen ſie
jene Unterlage vermeiden, oder durchbrechen, oder in zahlloſen
Kanälen ſich ihre Wege durch dieſes Hinderniß bahnen? — Wir
werden alſo wohl auch dieſe ganze Unterlage aufgeben, und an-
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Littrow, Joseph Johann von: Die Wunder des Himmels, oder gemeinfaßliche Darstellung des Weltsystems. Bd. 1. Stuttgart, 1834, S. 45. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/littrow_weltsystem01_1834/57>, abgerufen am 21.11.2024.
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