Lorinser, Carl Ignaz: Der Sieg über die Branntweinpest in Oberschlesien. Oppeln, 1845.und hat bei dieser Sache alle Erfahrung gegen sich; ihm steht ein anderes gegenüber, welches ungleich passender und wohl zu beachten ist: "die Natur macht keinen Sprung". Daß ein natürlicher Ekel und Abscheu vor dem Branntwein auf einmal eine große Bevölkerung überfallen und dadurch die Nüchternheit hervorgebracht habe, wird Niemand im Ernste zu behaupten wagen. Eben so wenig hat auch ein anderer unwillkürlicher Naturtrieb die Menschen mit Nothwendigkeit zur gänzlichen Aenderung ihrer Lebensweise bestimmen können; vielmehr hat die Natur sich heftig gegen diese Aenderung gesträubt, das Fleisch hat überall gegen den Geist gekämpft, und nicht ohne große Gewalt hat dieser die widerspänstigen Gelüste überwunden. Es fragt sich aber, ob nicht dennoch ein ursprünglich natürlicher Einfluß, nur auf abnorme oder krankhafte Weise, das Unerhörte zu Stande gebracht, also, daß die Begebenheit als ein epidemischer Proceß in das Gebiet der Pathologie zu verweisen sei, und eigentlich nur eine Krankheit die andere vertrieben habe? - Diese Vermuthung wird ohne Zweifel meinen verständigen Gönnern sehr plausibel erscheinen, wenn sie dabei noch analogisch berücksichtigen, daß in der That schon öfters gewisse krankhafte Nerven- und Seelenzustände mit allen ihnen anklebenden Thorheiten und Excessen durch eine Art von Ansteckung auf große Schaaren Volkes sich übertragen und seuchenhaft verbreitet haben; wie dies bekanntlich im finsteren und hat bei dieser Sache alle Erfahrung gegen sich; ihm steht ein anderes gegenüber, welches ungleich passender und wohl zu beachten ist: „die Natur macht keinen Sprung". Daß ein natürlicher Ekel und Abscheu vor dem Branntwein auf einmal eine große Bevölkerung überfallen und dadurch die Nüchternheit hervorgebracht habe, wird Niemand im Ernste zu behaupten wagen. Eben so wenig hat auch ein anderer unwillkürlicher Naturtrieb die Menschen mit Nothwendigkeit zur gänzlichen Aenderung ihrer Lebensweise bestimmen können; vielmehr hat die Natur sich heftig gegen diese Aenderung gesträubt, das Fleisch hat überall gegen den Geist gekämpft, und nicht ohne große Gewalt hat dieser die widerspänstigen Gelüste überwunden. Es fragt sich aber, ob nicht dennoch ein ursprünglich natürlicher Einfluß, nur auf abnorme oder krankhafte Weise, das Unerhörte zu Stande gebracht, also, daß die Begebenheit als ein epidemischer Proceß in das Gebiet der Pathologie zu verweisen sei, und eigentlich nur eine Krankheit die andere vertrieben habe? – Diese Vermuthung wird ohne Zweifel meinen verständigen Gönnern sehr plausibel erscheinen, wenn sie dabei noch analogisch berücksichtigen, daß in der That schon öfters gewisse krankhafte Nerven- und Seelenzustände mit allen ihnen anklebenden Thorheiten und Excessen durch eine Art von Ansteckung auf große Schaaren Volkes sich übertragen und seuchenhaft verbreitet haben; wie dies bekanntlich im finsteren <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0092" n="82"/> und hat bei dieser Sache alle Erfahrung gegen sich; ihm steht ein anderes gegenüber, welches ungleich passender und wohl zu beachten ist: „die Natur macht keinen Sprung".</p> <p>Daß ein natürlicher Ekel und Abscheu vor dem Branntwein auf einmal eine große Bevölkerung überfallen und dadurch die Nüchternheit hervorgebracht habe, wird Niemand im Ernste zu behaupten wagen. Eben so wenig hat auch ein anderer unwillkürlicher Naturtrieb die Menschen mit Nothwendigkeit zur gänzlichen Aenderung ihrer Lebensweise bestimmen können; vielmehr hat die Natur sich heftig gegen diese Aenderung gesträubt, das Fleisch hat überall gegen den Geist gekämpft, und nicht ohne große Gewalt hat dieser die widerspänstigen Gelüste überwunden. Es fragt sich aber, ob nicht dennoch ein ursprünglich natürlicher Einfluß, nur auf abnorme oder krankhafte Weise, das Unerhörte zu Stande gebracht, also, daß die Begebenheit als ein epidemischer Proceß in das Gebiet der Pathologie zu verweisen sei, und eigentlich nur eine Krankheit die andere vertrieben habe? – Diese Vermuthung wird ohne Zweifel meinen verständigen Gönnern sehr plausibel erscheinen, wenn sie dabei noch analogisch berücksichtigen, daß in der That schon öfters gewisse krankhafte Nerven- und Seelenzustände mit allen ihnen anklebenden Thorheiten und Excessen durch eine Art von Ansteckung auf große Schaaren Volkes sich übertragen und seuchenhaft verbreitet haben; wie dies bekanntlich im finsteren </p> </div> </body> </text> </TEI> [82/0092]
und hat bei dieser Sache alle Erfahrung gegen sich; ihm steht ein anderes gegenüber, welches ungleich passender und wohl zu beachten ist: „die Natur macht keinen Sprung".
Daß ein natürlicher Ekel und Abscheu vor dem Branntwein auf einmal eine große Bevölkerung überfallen und dadurch die Nüchternheit hervorgebracht habe, wird Niemand im Ernste zu behaupten wagen. Eben so wenig hat auch ein anderer unwillkürlicher Naturtrieb die Menschen mit Nothwendigkeit zur gänzlichen Aenderung ihrer Lebensweise bestimmen können; vielmehr hat die Natur sich heftig gegen diese Aenderung gesträubt, das Fleisch hat überall gegen den Geist gekämpft, und nicht ohne große Gewalt hat dieser die widerspänstigen Gelüste überwunden. Es fragt sich aber, ob nicht dennoch ein ursprünglich natürlicher Einfluß, nur auf abnorme oder krankhafte Weise, das Unerhörte zu Stande gebracht, also, daß die Begebenheit als ein epidemischer Proceß in das Gebiet der Pathologie zu verweisen sei, und eigentlich nur eine Krankheit die andere vertrieben habe? – Diese Vermuthung wird ohne Zweifel meinen verständigen Gönnern sehr plausibel erscheinen, wenn sie dabei noch analogisch berücksichtigen, daß in der That schon öfters gewisse krankhafte Nerven- und Seelenzustände mit allen ihnen anklebenden Thorheiten und Excessen durch eine Art von Ansteckung auf große Schaaren Volkes sich übertragen und seuchenhaft verbreitet haben; wie dies bekanntlich im finsteren
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