Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Ludwig, Julie: Das Gericht im Walde. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. [237]–288. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

Bild:
<< vorherige Seite

nicht wahr -- o sag's, daß es nicht wahr ist -- bat er mit erstickter Stimme und versuchte es, den schweren Oberkörper in seinen Armen aufzurichten. Mit zitternden Fingern strich er ihr das Haar aus der bleichen, kaltfeuchten Stirne; er rief sie mit hundert süßen Namen, aber keine Wimper zuckte in dem schönen, reglosen Gesicht, aus dem alle Härte, aller Stolz gewichen war, und das nun vor ihm lag mit den reinen Zügen des Kindes und der weichen Wehmuth eines liebenden, unglücklichen Weibes.

All die alte Liebe, verbunden mit einem neuen, heißen Schmerze zog aus diesem Angesichte in die Seele des Mannes hinüber, der sich als ihren Mörder anklagte. War er nicht zehnmal im Begriff gewesen, hervorzustürzen und sich in ihre Arme zu werfen, verzeihend und um Verzeihung bittend, seit er sie so hülflos, so gebrochen, so offenbar unglücklich fast stundenlang vor sich gesehen hatte? Aus ihren einzelnen, abgebrochenen, wie im Fieber hervorgestoßenen Worten war ihm ihr ganzer Zustand klar geworden; er sah, wie wenig er dies Weib erkannt, wie falsch er es behandelt hatte -- tiefe Reue erfaßte ihn, bitterste Beschämung, und dennoch -- dennoch -- wer ergründet das Menschenherz, dies trotzige und verzagte Ding? -- hatte er so lange gezögert, hervorzukommen, bis es nun zu spät war.

Auch Johannes war, von jenem fürchterlichen Blitzstrahl wie mitten in den Stern des Auges getroffen, jäh zurückgetaumelt, und schon am Klange des Donners hatte er erkannt, daß es dicht in seiner Nähe eingeschlagen -- es war kein kalter Schlag gewesen, aber, wie er auch mit zuckenden Händen nach der Stelle

nicht wahr — o sag's, daß es nicht wahr ist — bat er mit erstickter Stimme und versuchte es, den schweren Oberkörper in seinen Armen aufzurichten. Mit zitternden Fingern strich er ihr das Haar aus der bleichen, kaltfeuchten Stirne; er rief sie mit hundert süßen Namen, aber keine Wimper zuckte in dem schönen, reglosen Gesicht, aus dem alle Härte, aller Stolz gewichen war, und das nun vor ihm lag mit den reinen Zügen des Kindes und der weichen Wehmuth eines liebenden, unglücklichen Weibes.

All die alte Liebe, verbunden mit einem neuen, heißen Schmerze zog aus diesem Angesichte in die Seele des Mannes hinüber, der sich als ihren Mörder anklagte. War er nicht zehnmal im Begriff gewesen, hervorzustürzen und sich in ihre Arme zu werfen, verzeihend und um Verzeihung bittend, seit er sie so hülflos, so gebrochen, so offenbar unglücklich fast stundenlang vor sich gesehen hatte? Aus ihren einzelnen, abgebrochenen, wie im Fieber hervorgestoßenen Worten war ihm ihr ganzer Zustand klar geworden; er sah, wie wenig er dies Weib erkannt, wie falsch er es behandelt hatte — tiefe Reue erfaßte ihn, bitterste Beschämung, und dennoch — dennoch — wer ergründet das Menschenherz, dies trotzige und verzagte Ding? — hatte er so lange gezögert, hervorzukommen, bis es nun zu spät war.

Auch Johannes war, von jenem fürchterlichen Blitzstrahl wie mitten in den Stern des Auges getroffen, jäh zurückgetaumelt, und schon am Klange des Donners hatte er erkannt, daß es dicht in seiner Nähe eingeschlagen — es war kein kalter Schlag gewesen, aber, wie er auch mit zuckenden Händen nach der Stelle

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="0">
        <p><pb facs="#f0047"/>
nicht wahr &#x2014; o sag's, daß es nicht wahr ist &#x2014; bat er mit      erstickter Stimme und versuchte es, den schweren Oberkörper in seinen Armen aufzurichten. Mit      zitternden Fingern strich er ihr das Haar aus der bleichen, kaltfeuchten Stirne; er rief sie      mit hundert süßen Namen, aber keine Wimper zuckte in dem schönen, reglosen Gesicht, aus dem      alle Härte, aller Stolz gewichen war, und das nun vor ihm lag mit den reinen Zügen des Kindes      und der weichen Wehmuth eines liebenden, unglücklichen Weibes.</p><lb/>
        <p>All die alte Liebe, verbunden mit einem neuen, heißen Schmerze zog aus diesem Angesichte in      die Seele des Mannes hinüber, der sich als ihren Mörder anklagte. War er nicht zehnmal im      Begriff gewesen, hervorzustürzen und sich in ihre Arme zu werfen, verzeihend und um Verzeihung      bittend, seit er sie so hülflos, so gebrochen, so offenbar unglücklich fast stundenlang vor      sich gesehen hatte? Aus ihren einzelnen, abgebrochenen, wie im Fieber hervorgestoßenen Worten      war ihm ihr ganzer Zustand klar geworden; er sah, wie wenig er dies Weib erkannt, wie falsch er      es behandelt hatte &#x2014; tiefe Reue erfaßte ihn, bitterste Beschämung, und dennoch &#x2014; dennoch &#x2014; wer      ergründet das Menschenherz, dies trotzige und verzagte Ding? &#x2014; hatte er so lange gezögert,      hervorzukommen, bis es nun zu spät war.</p><lb/>
        <p>Auch Johannes war, von jenem fürchterlichen Blitzstrahl wie mitten in den Stern des Auges      getroffen, jäh zurückgetaumelt, und schon am Klange des Donners hatte er erkannt, daß es dicht      in seiner Nähe eingeschlagen &#x2014; es war kein kalter Schlag gewesen, aber, wie er auch mit      zuckenden Händen nach der Stelle<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0047] nicht wahr — o sag's, daß es nicht wahr ist — bat er mit erstickter Stimme und versuchte es, den schweren Oberkörper in seinen Armen aufzurichten. Mit zitternden Fingern strich er ihr das Haar aus der bleichen, kaltfeuchten Stirne; er rief sie mit hundert süßen Namen, aber keine Wimper zuckte in dem schönen, reglosen Gesicht, aus dem alle Härte, aller Stolz gewichen war, und das nun vor ihm lag mit den reinen Zügen des Kindes und der weichen Wehmuth eines liebenden, unglücklichen Weibes. All die alte Liebe, verbunden mit einem neuen, heißen Schmerze zog aus diesem Angesichte in die Seele des Mannes hinüber, der sich als ihren Mörder anklagte. War er nicht zehnmal im Begriff gewesen, hervorzustürzen und sich in ihre Arme zu werfen, verzeihend und um Verzeihung bittend, seit er sie so hülflos, so gebrochen, so offenbar unglücklich fast stundenlang vor sich gesehen hatte? Aus ihren einzelnen, abgebrochenen, wie im Fieber hervorgestoßenen Worten war ihm ihr ganzer Zustand klar geworden; er sah, wie wenig er dies Weib erkannt, wie falsch er es behandelt hatte — tiefe Reue erfaßte ihn, bitterste Beschämung, und dennoch — dennoch — wer ergründet das Menschenherz, dies trotzige und verzagte Ding? — hatte er so lange gezögert, hervorzukommen, bis es nun zu spät war. Auch Johannes war, von jenem fürchterlichen Blitzstrahl wie mitten in den Stern des Auges getroffen, jäh zurückgetaumelt, und schon am Klange des Donners hatte er erkannt, daß es dicht in seiner Nähe eingeschlagen — es war kein kalter Schlag gewesen, aber, wie er auch mit zuckenden Händen nach der Stelle

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T14:36:23Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T14:36:23Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: nein; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_gericht_1910
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_gericht_1910/47
Zitationshilfe: Ludwig, Julie: Das Gericht im Walde. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. [237]–288. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_gericht_1910/47>, abgerufen am 24.11.2024.