Fritz Nettenmair schlief noch den Schlaf eines Be¬ wahrten, als der neue Tag anbrach. Apollonius da¬ gegen war schon lange munter. Vielleicht hatte er gar nicht geschlafen. Der Kampf, den sein Bruder noch in seinem Angesicht gelesen, als er ihn mit dem Bauherrn das Haus verlassen sah, und den die Mühen des Ta¬ ges kaum zurückgedrängt, scheuchte Nachts den Schlum¬ mer von seinem Bett. Der Bruder hatte recht gesehn, seine scherzhafte Wendung des Gesprächs hatte ihren Zweck nicht erreicht. Und wenn Apollonius das Buch seiner Erinnerungen zurückblätterte, mußte er sich in seiner Meinung, der Bruder sei eifersüchtig auf ihn, bestärkt fühlen. Gar Manches, das er nicht begriffen, als er es geschehen sah, erhielt Licht von dieser An¬ nahme und half sie wiederum bestätigen. Die Abnei¬ gung der Frau schien ein bloßer Vorwand des Bru¬ ders, ihn von ihr fern zu halten. Der Bruder mußte gemeint haben, er könne sie mit andern als den Au¬ gen eines Bruders und Schwagers ansehn. Und das schien begreiflich, da der Bruder wußte, sie war ihm mehr gewesen, bis sie seine Schwägerin wurde. Er hätte das dem Bruder gern in Gedanken zum Vorwurf ge¬ macht, mußte er sich nicht gestehn, sein Mitleid, das des Bruders rohe Behandlung der Frau hervorgerufen, hatte seinen Empfindungen für sie eine Wärme gegeben, die ihn selbst beunruhigte. Er fürchtete nicht, daß ihn diese hinreißen könnte, des Bruders Furcht wahr zu ma¬
Fritz Nettenmair ſchlief noch den Schlaf eines Be¬ wahrten, als der neue Tag anbrach. Apollonius da¬ gegen war ſchon lange munter. Vielleicht hatte er gar nicht geſchlafen. Der Kampf, den ſein Bruder noch in ſeinem Angeſicht geleſen, als er ihn mit dem Bauherrn das Haus verlaſſen ſah, und den die Mühen des Ta¬ ges kaum zurückgedrängt, ſcheuchte Nachts den Schlum¬ mer von ſeinem Bett. Der Bruder hatte recht geſehn, ſeine ſcherzhafte Wendung des Geſprächs hatte ihren Zweck nicht erreicht. Und wenn Apollonius das Buch ſeiner Erinnerungen zurückblätterte, mußte er ſich in ſeiner Meinung, der Bruder ſei eiferſüchtig auf ihn, beſtärkt fühlen. Gar Manches, das er nicht begriffen, als er es geſchehen ſah, erhielt Licht von dieſer An¬ nahme und half ſie wiederum beſtätigen. Die Abnei¬ gung der Frau ſchien ein bloßer Vorwand des Bru¬ ders, ihn von ihr fern zu halten. Der Bruder mußte gemeint haben, er könne ſie mit andern als den Au¬ gen eines Bruders und Schwagers anſehn. Und das ſchien begreiflich, da der Bruder wußte, ſie war ihm mehr geweſen, bis ſie ſeine Schwägerin wurde. Er hätte das dem Bruder gern in Gedanken zum Vorwurf ge¬ macht, mußte er ſich nicht geſtehn, ſein Mitleid, das des Bruders rohe Behandlung der Frau hervorgerufen, hatte ſeinen Empfindungen für ſie eine Wärme gegeben, die ihn ſelbſt beunruhigte. Er fürchtete nicht, daß ihn dieſe hinreißen könnte, des Bruders Furcht wahr zu ma¬
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Fritz Nettenmair ſchlief noch den Schlaf eines Be¬
wahrten, als der neue Tag anbrach. Apollonius da¬
gegen war ſchon lange munter. Vielleicht hatte er gar
nicht geſchlafen. Der Kampf, den ſein Bruder noch in
ſeinem Angeſicht geleſen, als er ihn mit dem Bauherrn
das Haus verlaſſen ſah, und den die Mühen des Ta¬
ges kaum zurückgedrängt, ſcheuchte Nachts den Schlum¬
mer von ſeinem Bett. Der Bruder hatte recht geſehn,
ſeine ſcherzhafte Wendung des Geſprächs hatte ihren
Zweck nicht erreicht. Und wenn Apollonius das Buch
ſeiner Erinnerungen zurückblätterte, mußte er ſich in
ſeiner Meinung, der Bruder ſei eiferſüchtig auf ihn,
beſtärkt fühlen. Gar Manches, das er nicht begriffen,
als er es geſchehen ſah, erhielt Licht von dieſer An¬
nahme und half ſie wiederum beſtätigen. Die Abnei¬
gung der Frau ſchien ein bloßer Vorwand des Bru¬
ders, ihn von ihr fern zu halten. Der Bruder mußte
gemeint haben, er könne ſie mit andern als den Au¬
gen eines Bruders und Schwagers anſehn. Und das
ſchien begreiflich, da der Bruder wußte, ſie war ihm
mehr geweſen, bis ſie ſeine Schwägerin wurde. Er hätte
das dem Bruder gern in Gedanken zum Vorwurf ge¬
macht, mußte er ſich nicht geſtehn, ſein Mitleid, das
des Bruders rohe Behandlung der Frau hervorgerufen,
hatte ſeinen Empfindungen für ſie eine Wärme gegeben,
die ihn ſelbſt beunruhigte. Er fürchtete nicht, daß ihn
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Ludwig, Otto: Zwischen Himmel und Erde. Frankfurt (Main), 1856, S. 167. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_himmel_1856/176>, abgerufen am 04.12.2024.
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