war bald dort, bald da, und hatte vergessen, warum. Er sah die Nebel sich ballen, in denen der Gesell ver¬ schwunden war, zugleich sah er zu den hellen Fenstern des rothen Adlers auf, es klang: "Da kommt er ja! Nun wird's famos!" Er stand an den Straßenecken und zählte und die Breter wollten unter Apollonius nicht brechen, die Stricke über ihm nicht reißen; er stand wieder vor der Frau und sagte über des sterben¬ den Aennchen's Bett gebeugt: "weißt du, warum du erschrickst?" und holte aus zu dem unseligen Schlage; selbst daß er vor dem Vater dalag und hin- und her¬ sann in gräßlich angstvoller Hast, kam ihm vorüber¬ fliehend wie in einem Fiebertraum. Dann war's ihm, als käm' er zu sich und unendliche Zeit sei vergangen zwischen dem Augenblick, wo der Vater die Perpen¬ dikelschläge zu zählen begonnen, und jetzt. Es müsse ja Alles gut sein. Er müsse sich nur besinnen, ob er über den Vater hinweggeflohn, oder ob er sich ange¬ halten, als ihn der Vater mit sich hinunterreißen wollte. Aber da lag er noch, dort saß der Vater noch. Er hörte ihn "Neun" zählen und dann schweigen. Die Be¬ sinnung verließ ihn völlig.
Der alte Herr aber schwieg wirklich. Er zählte nicht mehr. Sein scharfes Ohr hörte einen eilenden Schritt auf der Treppe. Er griff nach dem Sohne und hielt ihn, wie um seiner gewiß zu sein, daß er ihm nicht entgehe. Er fühlte an der Kälte und Wider¬
war bald dort, bald da, und hatte vergeſſen, warum. Er ſah die Nebel ſich ballen, in denen der Geſell ver¬ ſchwunden war, zugleich ſah er zu den hellen Fenſtern des rothen Adlers auf, es klang: „Da kommt er ja! Nun wird's famos!“ Er ſtand an den Straßenecken und zählte und die Breter wollten unter Apollonius nicht brechen, die Stricke über ihm nicht reißen; er ſtand wieder vor der Frau und ſagte über des ſterben¬ den Aennchen's Bett gebeugt: „weißt du, warum du erſchrickſt?“ und holte aus zu dem unſeligen Schlage; ſelbſt daß er vor dem Vater dalag und hin- und her¬ ſann in gräßlich angſtvoller Haſt, kam ihm vorüber¬ fliehend wie in einem Fiebertraum. Dann war's ihm, als käm' er zu ſich und unendliche Zeit ſei vergangen zwiſchen dem Augenblick, wo der Vater die Perpen¬ dikelſchläge zu zählen begonnen, und jetzt. Es müſſe ja Alles gut ſein. Er müſſe ſich nur beſinnen, ob er über den Vater hinweggeflohn, oder ob er ſich ange¬ halten, als ihn der Vater mit ſich hinunterreißen wollte. Aber da lag er noch, dort ſaß der Vater noch. Er hörte ihn „Neun“ zählen und dann ſchweigen. Die Be¬ ſinnung verließ ihn völlig.
Der alte Herr aber ſchwieg wirklich. Er zählte nicht mehr. Sein ſcharfes Ohr hörte einen eilenden Schritt auf der Treppe. Er griff nach dem Sohne und hielt ihn, wie um ſeiner gewiß zu ſein, daß er ihm nicht entgehe. Er fühlte an der Kälte und Wider¬
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war bald dort, bald da, und hatte vergeſſen, warum.
Er ſah die Nebel ſich ballen, in denen der Geſell ver¬
ſchwunden war, zugleich ſah er zu den hellen Fenſtern
des rothen Adlers auf, es klang: „Da kommt er ja!
Nun wird's famos!“ Er ſtand an den Straßenecken
und zählte und die Breter wollten unter Apollonius
nicht brechen, die Stricke über ihm nicht reißen; er
ſtand wieder vor der Frau und ſagte über des ſterben¬
den Aennchen's Bett gebeugt: „weißt du, warum du
erſchrickſt?“ und holte aus zu dem unſeligen Schlage;
ſelbſt daß er vor dem Vater dalag und hin- und her¬
ſann in gräßlich angſtvoller Haſt, kam ihm vorüber¬
fliehend wie in einem Fiebertraum. Dann war's ihm,
als käm' er zu ſich und unendliche Zeit ſei vergangen
zwiſchen dem Augenblick, wo der Vater die Perpen¬
dikelſchläge zu zählen begonnen, und jetzt. Es müſſe
ja Alles gut ſein. Er müſſe ſich nur beſinnen, ob er
über den Vater hinweggeflohn, oder ob er ſich ange¬
halten, als ihn der Vater mit ſich hinunterreißen wollte.
Aber da lag er noch, dort ſaß der Vater noch. Er
hörte ihn „Neun“ zählen und dann ſchweigen. Die Be¬
ſinnung verließ ihn völlig.
Der alte Herr aber ſchwieg wirklich. Er zählte
nicht mehr. Sein ſcharfes Ohr hörte einen eilenden
Schritt auf der Treppe. Er griff nach dem Sohne
und hielt ihn, wie um ſeiner gewiß zu ſein, daß er
ihm nicht entgehe. Er fühlte an der Kälte und Wider¬
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Ludwig, Otto: Zwischen Himmel und Erde. Frankfurt (Main), 1856, S. 218. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_himmel_1856/227>, abgerufen am 04.12.2024.
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