Schmerz, an ein Leiden bei ihrem Anschaun denken müssen. Es ist auch keine schmerzliche Rührung, die wir da empfinden; und der Schmerz selbst hat auf solchem Gesicht eine wunderbare Kraft, uns zugleich zu trösten und rührend zu erheben, indem er uns zum tiefsten Mitleid mit seinem Träger dahinreißt. Als eine solche Gestalt hatte Christiane, so lang er sie kannte, vor des alten Valentin Augen gestanden, als eine solche lag sie jetzt vor ihm da.
Endlich hatte sie das Weinen gefunden. Der alte Valentin lebte wieder auf; er sah, sie war gerettet. Er las es in ihrem Gesichte, das, so ehrlich wie sie selbst, nichts verschweigen konnte. Er saß und hörte mit so freudiger Aufmerksamkeit auf ihr Weinen, als wär's ein schönes Lied, das sie ihm vorsänge. In den Augen¬ blicken, wo der Mensch der stärkeren Natur sich ohne Abzug hingeben muß, erkennt man am sichersten seine wahre Art. Was von Thierheit im Menschen unter der hergebrachten Schminke sogenannter Bildung oder vorsätzlicher Verstellung verborgen lag, tritt dann un¬ verholen hervor in den Bewegungen des Körpers und in dem Ton der Stimme. Der alte Valentin hörte die reine Melodie in Christianens Stimme im hinge¬ gossenen Weinen, welche sie nach dem Schlag über Aenn¬ chen's Bett im Doppelschrei von Schmerz und Entrüstung nicht verloren hatte. Sie hatte sich ausgeweint und erhob sich; der alte Valentin hätte ihr nicht zu helfen
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Schmerz, an ein Leiden bei ihrem Anſchaun denken müſſen. Es iſt auch keine ſchmerzliche Rührung, die wir da empfinden; und der Schmerz ſelbſt hat auf ſolchem Geſicht eine wunderbare Kraft, uns zugleich zu tröſten und rührend zu erheben, indem er uns zum tiefſten Mitleid mit ſeinem Träger dahinreißt. Als eine ſolche Geſtalt hatte Chriſtiane, ſo lang er ſie kannte, vor des alten Valentin Augen geſtanden, als eine ſolche lag ſie jetzt vor ihm da.
Endlich hatte ſie das Weinen gefunden. Der alte Valentin lebte wieder auf; er ſah, ſie war gerettet. Er las es in ihrem Geſichte, das, ſo ehrlich wie ſie ſelbſt, nichts verſchweigen konnte. Er ſaß und hörte mit ſo freudiger Aufmerkſamkeit auf ihr Weinen, als wär's ein ſchönes Lied, das ſie ihm vorſänge. In den Augen¬ blicken, wo der Menſch der ſtärkeren Natur ſich ohne Abzug hingeben muß, erkennt man am ſicherſten ſeine wahre Art. Was von Thierheit im Menſchen unter der hergebrachten Schminke ſogenannter Bildung oder vorſätzlicher Verſtellung verborgen lag, tritt dann un¬ verholen hervor in den Bewegungen des Körpers und in dem Ton der Stimme. Der alte Valentin hörte die reine Melodie in Chriſtianens Stimme im hinge¬ goſſenen Weinen, welche ſie nach dem Schlag über Aenn¬ chen's Bett im Doppelſchrei von Schmerz und Entrüſtung nicht verloren hatte. Sie hatte ſich ausgeweint und erhob ſich; der alte Valentin hätte ihr nicht zu helfen
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Schmerz, an ein Leiden bei ihrem Anſchaun denken
müſſen. Es iſt auch keine ſchmerzliche Rührung, die
wir da empfinden; und der Schmerz ſelbſt hat auf
ſolchem Geſicht eine wunderbare Kraft, uns zugleich
zu tröſten und rührend zu erheben, indem er uns zum
tiefſten Mitleid mit ſeinem Träger dahinreißt. Als eine
ſolche Geſtalt hatte Chriſtiane, ſo lang er ſie kannte,
vor des alten Valentin Augen geſtanden, als eine ſolche
lag ſie jetzt vor ihm da.
Endlich hatte ſie das Weinen gefunden. Der alte
Valentin lebte wieder auf; er ſah, ſie war gerettet.
Er las es in ihrem Geſichte, das, ſo ehrlich wie ſie
ſelbſt, nichts verſchweigen konnte. Er ſaß und hörte mit
ſo freudiger Aufmerkſamkeit auf ihr Weinen, als wär's
ein ſchönes Lied, das ſie ihm vorſänge. In den Augen¬
blicken, wo der Menſch der ſtärkeren Natur ſich ohne
Abzug hingeben muß, erkennt man am ſicherſten ſeine
wahre Art. Was von Thierheit im Menſchen unter
der hergebrachten Schminke ſogenannter Bildung oder
vorſätzlicher Verſtellung verborgen lag, tritt dann un¬
verholen hervor in den Bewegungen des Körpers und
in dem Ton der Stimme. Der alte Valentin hörte
die reine Melodie in Chriſtianens Stimme im hinge¬
goſſenen Weinen, welche ſie nach dem Schlag über Aenn¬
chen's Bett im Doppelſchrei von Schmerz und Entrüſtung
nicht verloren hatte. Sie hatte ſich ausgeweint und
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Ludwig, Otto: Zwischen Himmel und Erde. Frankfurt (Main), 1856, S. 227. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_himmel_1856/236>, abgerufen am 04.12.2024.
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