chen, wie es nur erlaubte Liebe darf. Sie sah nun erst die Gefahr, an deren Abgrund sie ihn und sich gestellt. Sie richtete sich auf den Knieen auf, als wollte sie ihn flehn, sie nicht zu verachten. Zugleich fiel ihr wieder ein, der Mann konnte sie belauscht ha¬ ben und die Drohung noch vollziehn. Dann hatte sie ihn durch die Freude über seine Rettung erst verdor¬ ben. Er sah das Alles und litt es mit ihr. Er hatte sich abgekämpft, ihr nicht zu zeigen, was in ihm vor¬ ging; aber der Kampf selbst in seinem Innern war nicht ausgekämpft. Er neigte sich zu ihr und sagte: "Du bist meine brave Schwester. Du bist braver als ich. Und über uns und deinem Manne ist Gott. Aber nun geh hinein, Schwester, liebe brave Schwe¬ ster." Sie wagte nicht aufzusehn, aber durch die gesenk¬ ten Lieder sah sie seine Milde, das tiefe, unausschöpf¬ bare Wohlwollen, die unvernichtbare Menschenachtung auf seiner leuchtenden Stirne und um den sanften Mund. Und wie er ihr bewußter und unbewußter Maßstab war, wußte sie nun, sie war nicht schlecht. Und sie konnt' es auch nicht werden; er trug sie be¬ wahrt wie die Mutter das Kind auf seinen starken, vorsehenden Armen. Er wuchs ihr, wie sie ihn durch die gesenkten Lieder sah, mit dem Haupte bis an den Himmel. Sie wußte, daß ihm der Mann nicht scha¬ den konnte. Apollonius gab ihr den Knaben in den Arm und bot die Hand, sie aufzurichten. Sie bebte
chen, wie es nur erlaubte Liebe darf. Sie ſah nun erſt die Gefahr, an deren Abgrund ſie ihn und ſich geſtellt. Sie richtete ſich auf den Knieen auf, als wollte ſie ihn flehn, ſie nicht zu verachten. Zugleich fiel ihr wieder ein, der Mann konnte ſie belauſcht ha¬ ben und die Drohung noch vollziehn. Dann hatte ſie ihn durch die Freude über ſeine Rettung erſt verdor¬ ben. Er ſah das Alles und litt es mit ihr. Er hatte ſich abgekämpft, ihr nicht zu zeigen, was in ihm vor¬ ging; aber der Kampf ſelbſt in ſeinem Innern war nicht ausgekämpft. Er neigte ſich zu ihr und ſagte: „Du biſt meine brave Schweſter. Du biſt braver als ich. Und über uns und deinem Manne iſt Gott. Aber nun geh hinein, Schweſter, liebe brave Schwe¬ ſter.“ Sie wagte nicht aufzuſehn, aber durch die geſenk¬ ten Lieder ſah ſie ſeine Milde, das tiefe, unausſchöpf¬ bare Wohlwollen, die unvernichtbare Menſchenachtung auf ſeiner leuchtenden Stirne und um den ſanften Mund. Und wie er ihr bewußter und unbewußter Maßſtab war, wußte ſie nun, ſie war nicht ſchlecht. Und ſie konnt' es auch nicht werden; er trug ſie be¬ wahrt wie die Mutter das Kind auf ſeinen ſtarken, vorſehenden Armen. Er wuchs ihr, wie ſie ihn durch die geſenkten Lieder ſah, mit dem Haupte bis an den Himmel. Sie wußte, daß ihm der Mann nicht ſcha¬ den konnte. Apollonius gab ihr den Knaben in den Arm und bot die Hand, ſie aufzurichten. Sie bebte
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chen, wie es nur erlaubte Liebe darf. Sie ſah nun
erſt die Gefahr, an deren Abgrund ſie ihn und ſich
geſtellt. Sie richtete ſich auf den Knieen auf, als
wollte ſie ihn flehn, ſie nicht zu verachten. Zugleich
fiel ihr wieder ein, der Mann konnte ſie belauſcht ha¬
ben und die Drohung noch vollziehn. Dann hatte ſie
ihn durch die Freude über ſeine Rettung erſt verdor¬
ben. Er ſah das Alles und litt es mit ihr. Er hatte
ſich abgekämpft, ihr nicht zu zeigen, was in ihm vor¬
ging; aber der Kampf ſelbſt in ſeinem Innern war
nicht ausgekämpft. Er neigte ſich zu ihr und ſagte:
„Du biſt meine brave Schweſter. Du biſt braver als
ich. Und über uns und deinem Manne iſt Gott.
Aber nun geh hinein, Schweſter, liebe brave Schwe¬
ſter.“ Sie wagte nicht aufzuſehn, aber durch die geſenk¬
ten Lieder ſah ſie ſeine Milde, das tiefe, unausſchöpf¬
bare Wohlwollen, die unvernichtbare Menſchenachtung
auf ſeiner leuchtenden Stirne und um den ſanften
Mund. Und wie er ihr bewußter und unbewußter
Maßſtab war, wußte ſie nun, ſie war nicht ſchlecht.
Und ſie konnt' es auch nicht werden; er trug ſie be¬
wahrt wie die Mutter das Kind auf ſeinen ſtarken,
vorſehenden Armen. Er wuchs ihr, wie ſie ihn durch
die geſenkten Lieder ſah, mit dem Haupte bis an den
Himmel. Sie wußte, daß ihm der Mann nicht ſcha¬
den konnte. Apollonius gab ihr den Knaben in den
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Ludwig, Otto: Zwischen Himmel und Erde. Frankfurt (Main), 1856, S. 239. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_himmel_1856/248>, abgerufen am 04.12.2024.
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