Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Ludwig, Otto: Zwischen Himmel und Erde. Frankfurt (Main), 1856.

Bild:
<< vorherige Seite

Schwindel, des Schieferdeckers ärgster, tückischer Feind,
wenn er ihn plötzlich zwischen Himmel und Erde auf
der schwanken Leiter faßt! Vergeblich strebte er, ihn zu
überwinden; sein Vorhaben mußte heut aufgegeben
sein. So schwer war Apollonius noch kein Weg ge¬
worden, als der die Thurmtreppe von Sankt Georg
herab. Was sollte werden! Wie sollte er sein Wort
erfüllen, wenn ihn der Schwindel nicht verließ! Noch
denselben Tag hatte er auf dem Nicolaithurme etwas
nachzusehn. Hier mußte er mehr wagen als dort; die
Glocken schlugen, als er am gefährlichsten stand, vom
Schwindel fühlte er keine Spur. Freudig eilte er nach
Sankt Georg zurück; aber hier zitterte wieder die Treppen¬
leiter unter seinen Füßen, und wie er hinaussah, nickten
die Berge wieder und schaukelte wieder der Thurm.
Er war schon auf den untersten Stufen der Treppe,
als oben ein Stundenschlag begann. Die Töne dröhn¬
ten ihm durch Mark und Bein, er mußte sich am Ge¬
länder festhalten, bis das letzte Summen verklungen
war. Er machte noch Versuch über Versuch; er bestieg
alle Dächer und Thürme mit seiner alten Sicherheit;
nur zu Sankt Georg wohnte der Schwindel. Dort
hatte er seine bösen Gedanken in die Arbeit hineinge¬
hämmert; er hatte damals schon gefühlt, er hämmere
einen Zauber zurecht, ein kommend Unheil fertig. Tag
und Nacht verfolgte ihn das Bild der Stelle, wo er
die Bleiplatte einzusetzen und den Zierrath fest zu na¬

Schwindel, des Schieferdeckers ärgſter, tückiſcher Feind,
wenn er ihn plötzlich zwiſchen Himmel und Erde auf
der ſchwanken Leiter faßt! Vergeblich ſtrebte er, ihn zu
überwinden; ſein Vorhaben mußte heut aufgegeben
ſein. So ſchwer war Apollonius noch kein Weg ge¬
worden, als der die Thurmtreppe von Sankt Georg
herab. Was ſollte werden! Wie ſollte er ſein Wort
erfüllen, wenn ihn der Schwindel nicht verließ! Noch
denſelben Tag hatte er auf dem Nicolaithurme etwas
nachzuſehn. Hier mußte er mehr wagen als dort; die
Glocken ſchlugen, als er am gefährlichſten ſtand, vom
Schwindel fühlte er keine Spur. Freudig eilte er nach
Sankt Georg zurück; aber hier zitterte wieder die Treppen¬
leiter unter ſeinen Füßen, und wie er hinausſah, nickten
die Berge wieder und ſchaukelte wieder der Thurm.
Er war ſchon auf den unterſten Stufen der Treppe,
als oben ein Stundenſchlag begann. Die Töne dröhn¬
ten ihm durch Mark und Bein, er mußte ſich am Ge¬
länder feſthalten, bis das letzte Summen verklungen
war. Er machte noch Verſuch über Verſuch; er beſtieg
alle Dächer und Thürme mit ſeiner alten Sicherheit;
nur zu Sankt Georg wohnte der Schwindel. Dort
hatte er ſeine böſen Gedanken in die Arbeit hineinge¬
hämmert; er hatte damals ſchon gefühlt, er hämmere
einen Zauber zurecht, ein kommend Unheil fertig. Tag
und Nacht verfolgte ihn das Bild der Stelle, wo er
die Bleiplatte einzuſetzen und den Zierrath feſt zu na¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0285" n="176[276]"/>
Schwindel, des Schieferdeckers ärg&#x017F;ter, tücki&#x017F;cher Feind,<lb/>
wenn er ihn plötzlich zwi&#x017F;chen Himmel und Erde auf<lb/>
der &#x017F;chwanken Leiter faßt! Vergeblich &#x017F;trebte er, ihn zu<lb/>
überwinden; &#x017F;ein Vorhaben mußte heut aufgegeben<lb/>
&#x017F;ein. So &#x017F;chwer war Apollonius noch kein Weg ge¬<lb/>
worden, als der die Thurmtreppe von Sankt Georg<lb/>
herab. Was &#x017F;ollte werden! Wie &#x017F;ollte er &#x017F;ein Wort<lb/>
erfüllen, wenn ihn der Schwindel nicht verließ! Noch<lb/>
den&#x017F;elben Tag hatte er auf dem Nicolaithurme etwas<lb/>
nachzu&#x017F;ehn. Hier mußte er mehr wagen als dort; die<lb/>
Glocken &#x017F;chlugen, als er am gefährlich&#x017F;ten &#x017F;tand, vom<lb/>
Schwindel fühlte er keine Spur. Freudig eilte er nach<lb/>
Sankt Georg zurück; aber hier zitterte wieder die Treppen¬<lb/>
leiter unter &#x017F;einen Füßen, und wie er hinaus&#x017F;ah, nickten<lb/>
die Berge wieder und &#x017F;chaukelte wieder der Thurm.<lb/>
Er war &#x017F;chon auf den unter&#x017F;ten Stufen der Treppe,<lb/>
als oben ein Stunden&#x017F;chlag begann. Die Töne dröhn¬<lb/>
ten ihm durch Mark und Bein, er mußte &#x017F;ich am Ge¬<lb/>
länder fe&#x017F;thalten, bis das letzte Summen verklungen<lb/>
war. Er machte noch Ver&#x017F;uch über Ver&#x017F;uch; er be&#x017F;tieg<lb/>
alle Dächer und Thürme mit &#x017F;einer alten Sicherheit;<lb/>
nur zu Sankt Georg wohnte der Schwindel. Dort<lb/>
hatte er &#x017F;eine bö&#x017F;en Gedanken in die Arbeit hineinge¬<lb/>
hämmert; er hatte damals &#x017F;chon gefühlt, er hämmere<lb/>
einen Zauber zurecht, ein kommend Unheil fertig. Tag<lb/>
und Nacht verfolgte ihn das Bild der Stelle, wo er<lb/>
die Bleiplatte einzu&#x017F;etzen und den Zierrath fe&#x017F;t zu na¬<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[176[276]/0285] Schwindel, des Schieferdeckers ärgſter, tückiſcher Feind, wenn er ihn plötzlich zwiſchen Himmel und Erde auf der ſchwanken Leiter faßt! Vergeblich ſtrebte er, ihn zu überwinden; ſein Vorhaben mußte heut aufgegeben ſein. So ſchwer war Apollonius noch kein Weg ge¬ worden, als der die Thurmtreppe von Sankt Georg herab. Was ſollte werden! Wie ſollte er ſein Wort erfüllen, wenn ihn der Schwindel nicht verließ! Noch denſelben Tag hatte er auf dem Nicolaithurme etwas nachzuſehn. Hier mußte er mehr wagen als dort; die Glocken ſchlugen, als er am gefährlichſten ſtand, vom Schwindel fühlte er keine Spur. Freudig eilte er nach Sankt Georg zurück; aber hier zitterte wieder die Treppen¬ leiter unter ſeinen Füßen, und wie er hinausſah, nickten die Berge wieder und ſchaukelte wieder der Thurm. Er war ſchon auf den unterſten Stufen der Treppe, als oben ein Stundenſchlag begann. Die Töne dröhn¬ ten ihm durch Mark und Bein, er mußte ſich am Ge¬ länder feſthalten, bis das letzte Summen verklungen war. Er machte noch Verſuch über Verſuch; er beſtieg alle Dächer und Thürme mit ſeiner alten Sicherheit; nur zu Sankt Georg wohnte der Schwindel. Dort hatte er ſeine böſen Gedanken in die Arbeit hineinge¬ hämmert; er hatte damals ſchon gefühlt, er hämmere einen Zauber zurecht, ein kommend Unheil fertig. Tag und Nacht verfolgte ihn das Bild der Stelle, wo er die Bleiplatte einzuſetzen und den Zierrath feſt zu na¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_himmel_1856
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_himmel_1856/285
Zitationshilfe: Ludwig, Otto: Zwischen Himmel und Erde. Frankfurt (Main), 1856, S. 176[276]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_himmel_1856/285>, abgerufen am 18.12.2024.