Bruder. Wie dieser immer selbstsüchtiger, wilder und rücksichtsloser geworden war, machte Appollonius das Seelenleiden immer milder und stiller. Er verlor über dem eigenen Zustande nicht das Mitgefühl mit frem¬ dem Leiden. Er bedauerte nicht sich. Dachte er an die Menschen, die ihm liebend nahe standen, so war sein Schmerz mehr ein Mitleid mit ihrem Mitleid. Selbst sein Sopha vergaß er nicht zu streicheln; er that es, wie man einen Diener tröstet, der das Un¬ glück seines Herrn als sein eigenes fühlt. Natürlich, daß auch ihn die Leute mit der Heirath neckten, die ihnen nothwendig schien. Er mußte sich sagen, daß er dachte wie sie, und daß seine Wünsche keine uner¬ laubten mehr waren. Aber daß sie es einmal gewe¬ sen, warf seinen Schatten herüber auf das vorwurfs¬ freie Jetzt. Seine Liebe, ihr Besitz, schien ihm wie be¬ schmutzt. Was Verstand und Liebe sagen mochten, er fühlte in der Heirath eine Schuld. Daher kam's, daß Christianens Nähe ihn nicht heiterer machte. Es gab Augenblicke, wo seine Verdüsterung ihm selbst wie eine Krankheit vorkam, und er hoffte, sie werde vorübergehn. Aber auch da trat er Christianen nicht näher, so sehr sein Herz ihn zog. Er blieb gegen sie wie damals, wo er den Knaben zwischen sie und sich gestellt hatte. Die kleinste Annäherung sah er nach seiner Weise für eine Bindung an, und dachte er sich die Heirath ent¬ schieden, so lastete wiederum das Gefühl von Schuld
Bruder. Wie dieſer immer ſelbſtſüchtiger, wilder und rückſichtsloſer geworden war, machte Appollonius das Seelenleiden immer milder und ſtiller. Er verlor über dem eigenen Zuſtande nicht das Mitgefühl mit frem¬ dem Leiden. Er bedauerte nicht ſich. Dachte er an die Menſchen, die ihm liebend nahe ſtanden, ſo war ſein Schmerz mehr ein Mitleid mit ihrem Mitleid. Selbſt ſein Sopha vergaß er nicht zu ſtreicheln; er that es, wie man einen Diener tröſtet, der das Un¬ glück ſeines Herrn als ſein eigenes fühlt. Natürlich, daß auch ihn die Leute mit der Heirath neckten, die ihnen nothwendig ſchien. Er mußte ſich ſagen, daß er dachte wie ſie, und daß ſeine Wünſche keine uner¬ laubten mehr waren. Aber daß ſie es einmal gewe¬ ſen, warf ſeinen Schatten herüber auf das vorwurfs¬ freie Jetzt. Seine Liebe, ihr Beſitz, ſchien ihm wie be¬ ſchmutzt. Was Verſtand und Liebe ſagen mochten, er fühlte in der Heirath eine Schuld. Daher kam's, daß Chriſtianens Nähe ihn nicht heiterer machte. Es gab Augenblicke, wo ſeine Verdüſterung ihm ſelbſt wie eine Krankheit vorkam, und er hoffte, ſie werde vorübergehn. Aber auch da trat er Chriſtianen nicht näher, ſo ſehr ſein Herz ihn zog. Er blieb gegen ſie wie damals, wo er den Knaben zwiſchen ſie und ſich geſtellt hatte. Die kleinſte Annäherung ſah er nach ſeiner Weiſe für eine Bindung an, und dachte er ſich die Heirath ent¬ ſchieden, ſo laſtete wiederum das Gefühl von Schuld
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0288"n="279"/>
Bruder. Wie dieſer immer ſelbſtſüchtiger, wilder und<lb/>
rückſichtsloſer geworden war, machte Appollonius das<lb/>
Seelenleiden immer milder und ſtiller. Er verlor über<lb/>
dem eigenen Zuſtande nicht das Mitgefühl mit frem¬<lb/>
dem Leiden. Er bedauerte nicht ſich. Dachte er an<lb/>
die Menſchen, die ihm liebend nahe ſtanden, ſo war<lb/>ſein Schmerz mehr ein Mitleid mit ihrem Mitleid.<lb/>
Selbſt ſein Sopha vergaß er nicht zu ſtreicheln; er<lb/>
that es, wie man einen Diener tröſtet, der das Un¬<lb/>
glück ſeines Herrn als ſein eigenes fühlt. Natürlich,<lb/>
daß auch ihn die Leute mit der Heirath neckten, die<lb/>
ihnen nothwendig ſchien. Er mußte ſich ſagen, daß<lb/>
er dachte wie ſie, und daß ſeine Wünſche keine uner¬<lb/>
laubten mehr waren. Aber daß ſie es einmal gewe¬<lb/>ſen, warf ſeinen Schatten herüber auf das vorwurfs¬<lb/>
freie Jetzt. Seine Liebe, ihr Beſitz, ſchien ihm wie be¬<lb/>ſchmutzt. Was Verſtand und Liebe ſagen mochten, er<lb/>
fühlte in der Heirath eine Schuld. Daher kam's, daß<lb/>
Chriſtianens Nähe ihn nicht heiterer machte. Es gab<lb/>
Augenblicke, wo ſeine Verdüſterung ihm ſelbſt wie eine<lb/>
Krankheit vorkam, und er hoffte, ſie werde vorübergehn.<lb/>
Aber auch da trat er Chriſtianen nicht näher, ſo ſehr<lb/>ſein Herz ihn zog. Er blieb gegen ſie wie damals,<lb/>
wo er den Knaben zwiſchen ſie und ſich geſtellt hatte.<lb/>
Die kleinſte Annäherung ſah er nach ſeiner Weiſe für<lb/>
eine Bindung an, und dachte er ſich die Heirath ent¬<lb/>ſchieden, ſo laſtete wiederum das Gefühl von Schuld<lb/></p></div></body></text></TEI>
[279/0288]
Bruder. Wie dieſer immer ſelbſtſüchtiger, wilder und
rückſichtsloſer geworden war, machte Appollonius das
Seelenleiden immer milder und ſtiller. Er verlor über
dem eigenen Zuſtande nicht das Mitgefühl mit frem¬
dem Leiden. Er bedauerte nicht ſich. Dachte er an
die Menſchen, die ihm liebend nahe ſtanden, ſo war
ſein Schmerz mehr ein Mitleid mit ihrem Mitleid.
Selbſt ſein Sopha vergaß er nicht zu ſtreicheln; er
that es, wie man einen Diener tröſtet, der das Un¬
glück ſeines Herrn als ſein eigenes fühlt. Natürlich,
daß auch ihn die Leute mit der Heirath neckten, die
ihnen nothwendig ſchien. Er mußte ſich ſagen, daß
er dachte wie ſie, und daß ſeine Wünſche keine uner¬
laubten mehr waren. Aber daß ſie es einmal gewe¬
ſen, warf ſeinen Schatten herüber auf das vorwurfs¬
freie Jetzt. Seine Liebe, ihr Beſitz, ſchien ihm wie be¬
ſchmutzt. Was Verſtand und Liebe ſagen mochten, er
fühlte in der Heirath eine Schuld. Daher kam's, daß
Chriſtianens Nähe ihn nicht heiterer machte. Es gab
Augenblicke, wo ſeine Verdüſterung ihm ſelbſt wie eine
Krankheit vorkam, und er hoffte, ſie werde vorübergehn.
Aber auch da trat er Chriſtianen nicht näher, ſo ſehr
ſein Herz ihn zog. Er blieb gegen ſie wie damals,
wo er den Knaben zwiſchen ſie und ſich geſtellt hatte.
Die kleinſte Annäherung ſah er nach ſeiner Weiſe für
eine Bindung an, und dachte er ſich die Heirath ent¬
ſchieden, ſo laſtete wiederum das Gefühl von Schuld
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Ludwig, Otto: Zwischen Himmel und Erde. Frankfurt (Main), 1856, S. 279. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_himmel_1856/288>, abgerufen am 18.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.