Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Ludwig, Otto: Zwischen Himmel und Erde. Frankfurt (Main), 1856.

Bild:
<< vorherige Seite

in diesem Augenblicke nicht. Vielleicht auch morgen
und übermorgen noch nicht. Wie viel Zeit mag
nöthig sein, wie viel Schmerzen wird sie zu Hülfe
nehmen müssen, von einem ursprünglich so schönen
Menschenbilde abzuwaschen, womit die Gewohnheit von
Jahren es beschmutzt!

Die Thür flog auf, das hochgeröthete Antlitz des
Dienstmädchens erschien in ihr. Er kommt! Wer in
der Straße zufällig am Fenster steht, schaut mit Wohl¬
gefallen auf die frische, schlanke, männliche Gestalt
herab, die daher kommt, den Tornister auf dem Rücken,
den Stock unter'm Arm. Denn er hat keine Hand
frei. An der rechten führt er ein Mädchen, zwei klei¬
nere Knaben halten sich zugleich an seiner linken fest,
Ein Umstand, der das Fortkommen nicht erleichtert.
Die Nachbaren, die wußten, wer erwartet wurde, fül¬
len Fenster und Thüren. Er hat nun nicht allein den
unermüdlich auf ihn einredenden Kindern, er hat auch
Andern zu antworten. Den Alten muß er auf Grüße
und Scherzreden erwiedern, Schulkameraden zuwinken,
vor erröthenden Mädchengesichtern sich verneigen. Den
Hut kann er nicht abzieh'n; die Kinder geben seine
Hände nicht frei. Aber die Grüßenden verlangen es
auch nicht; sie seh'n, wie unmöglich es ihm ist. Und
wo er vorübergegangen, da sagt ein Winken hinter
ihm her, er ist noch der alte, hübsche, bescheidene Junge,
und ein gehobener Finger setzt hinzu: aber er ist kein

in dieſem Augenblicke nicht. Vielleicht auch morgen
und übermorgen noch nicht. Wie viel Zeit mag
nöthig ſein, wie viel Schmerzen wird ſie zu Hülfe
nehmen müſſen, von einem urſprünglich ſo ſchönen
Menſchenbilde abzuwaſchen, womit die Gewohnheit von
Jahren es beſchmutzt!

Die Thür flog auf, das hochgeröthete Antlitz des
Dienſtmädchens erſchien in ihr. Er kommt! Wer in
der Straße zufällig am Fenſter ſteht, ſchaut mit Wohl¬
gefallen auf die friſche, ſchlanke, männliche Geſtalt
herab, die daher kommt, den Torniſter auf dem Rücken,
den Stock unter'm Arm. Denn er hat keine Hand
frei. An der rechten führt er ein Mädchen, zwei klei¬
nere Knaben halten ſich zugleich an ſeiner linken feſt,
Ein Umſtand, der das Fortkommen nicht erleichtert.
Die Nachbaren, die wußten, wer erwartet wurde, fül¬
len Fenſter und Thüren. Er hat nun nicht allein den
unermüdlich auf ihn einredenden Kindern, er hat auch
Andern zu antworten. Den Alten muß er auf Grüße
und Scherzreden erwiedern, Schulkameraden zuwinken,
vor erröthenden Mädchengeſichtern ſich verneigen. Den
Hut kann er nicht abzieh'n; die Kinder geben ſeine
Hände nicht frei. Aber die Grüßenden verlangen es
auch nicht; ſie ſeh'n, wie unmöglich es ihm iſt. Und
wo er vorübergegangen, da ſagt ein Winken hinter
ihm her, er iſt noch der alte, hübſche, beſcheidene Junge,
und ein gehobener Finger ſetzt hinzu: aber er iſt kein

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0051" n="42"/>
in die&#x017F;em Augenblicke nicht. Vielleicht auch morgen<lb/>
und übermorgen noch nicht. Wie viel Zeit mag<lb/>
nöthig &#x017F;ein, wie viel Schmerzen wird &#x017F;ie zu Hülfe<lb/>
nehmen mü&#x017F;&#x017F;en, von einem ur&#x017F;prünglich &#x017F;o &#x017F;chönen<lb/>
Men&#x017F;chenbilde abzuwa&#x017F;chen, womit die Gewohnheit von<lb/>
Jahren es be&#x017F;chmutzt!</p><lb/>
        <p>Die Thür flog auf, das hochgeröthete Antlitz des<lb/>
Dien&#x017F;tmädchens er&#x017F;chien in ihr. Er kommt! Wer in<lb/>
der Straße zufällig am Fen&#x017F;ter &#x017F;teht, &#x017F;chaut mit Wohl¬<lb/>
gefallen auf die fri&#x017F;che, &#x017F;chlanke, männliche Ge&#x017F;talt<lb/>
herab, die daher kommt, den Torni&#x017F;ter auf dem Rücken,<lb/>
den Stock unter'm Arm. Denn er hat keine Hand<lb/>
frei. An der rechten führt er ein Mädchen, zwei klei¬<lb/>
nere Knaben halten &#x017F;ich zugleich an &#x017F;einer linken fe&#x017F;t,<lb/>
Ein Um&#x017F;tand, der das Fortkommen nicht erleichtert.<lb/>
Die Nachbaren, die wußten, wer erwartet wurde, fül¬<lb/>
len Fen&#x017F;ter und Thüren. Er hat nun nicht allein den<lb/>
unermüdlich auf ihn einredenden Kindern, er hat auch<lb/>
Andern zu antworten. Den Alten muß er auf Grüße<lb/>
und Scherzreden erwiedern, Schulkameraden zuwinken,<lb/>
vor erröthenden Mädchenge&#x017F;ichtern &#x017F;ich verneigen. Den<lb/>
Hut kann er nicht abzieh'n; die Kinder geben &#x017F;eine<lb/>
Hände nicht frei. Aber die Grüßenden verlangen es<lb/>
auch nicht; &#x017F;ie &#x017F;eh'n, wie unmöglich es ihm i&#x017F;t. Und<lb/>
wo er vorübergegangen, da &#x017F;agt ein Winken hinter<lb/>
ihm her, er i&#x017F;t noch der alte, hüb&#x017F;che, be&#x017F;cheidene Junge,<lb/>
und ein gehobener Finger &#x017F;etzt hinzu: aber er i&#x017F;t kein<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[42/0051] in dieſem Augenblicke nicht. Vielleicht auch morgen und übermorgen noch nicht. Wie viel Zeit mag nöthig ſein, wie viel Schmerzen wird ſie zu Hülfe nehmen müſſen, von einem urſprünglich ſo ſchönen Menſchenbilde abzuwaſchen, womit die Gewohnheit von Jahren es beſchmutzt! Die Thür flog auf, das hochgeröthete Antlitz des Dienſtmädchens erſchien in ihr. Er kommt! Wer in der Straße zufällig am Fenſter ſteht, ſchaut mit Wohl¬ gefallen auf die friſche, ſchlanke, männliche Geſtalt herab, die daher kommt, den Torniſter auf dem Rücken, den Stock unter'm Arm. Denn er hat keine Hand frei. An der rechten führt er ein Mädchen, zwei klei¬ nere Knaben halten ſich zugleich an ſeiner linken feſt, Ein Umſtand, der das Fortkommen nicht erleichtert. Die Nachbaren, die wußten, wer erwartet wurde, fül¬ len Fenſter und Thüren. Er hat nun nicht allein den unermüdlich auf ihn einredenden Kindern, er hat auch Andern zu antworten. Den Alten muß er auf Grüße und Scherzreden erwiedern, Schulkameraden zuwinken, vor erröthenden Mädchengeſichtern ſich verneigen. Den Hut kann er nicht abzieh'n; die Kinder geben ſeine Hände nicht frei. Aber die Grüßenden verlangen es auch nicht; ſie ſeh'n, wie unmöglich es ihm iſt. Und wo er vorübergegangen, da ſagt ein Winken hinter ihm her, er iſt noch der alte, hübſche, beſcheidene Junge, und ein gehobener Finger ſetzt hinzu: aber er iſt kein

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_himmel_1856
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_himmel_1856/51
Zitationshilfe: Ludwig, Otto: Zwischen Himmel und Erde. Frankfurt (Main), 1856, S. 42. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_himmel_1856/51>, abgerufen am 21.11.2024.