sein Thun mit ihrer Erwartung zu vergleichen. Fritz Nettenmair fühlte in ihrer Seele, wie wenig beide sich glichen. Er mühte sich, den Widerwillen der jungen Frau zu seiner alten Stärke aufzustacheln. Er that es, während er fühlte, wie vergeblich es war, wie ein ein¬ ziger Blick auf das milde, rechtschaffene Antlitz des Bruders niederreißen mußte, was er mühsam in Zeit von Tagen aufgebaut. Er fühlte, wie fein er zu Werke gehen mußte, und wie plump er doch zu Werke ging; wie dieselbe Macht, die sein Gefühl für das Maaß schärfte, ihn im Handeln darüber hinausriß. Er wußte, was er begonnen, mußte seinen Gang voll¬ enden zu seinem Verderben. Er suchte Vergessen, und riß seine Frau immer tiefer in den Wirbel der Zer¬ streuung mit hinein.
Arzneimittel sollen, in übergroßer Gabe angewandt, das Gegentheil wirken. So geschah's mit dem Mittel Fritz Nettenmair's; wenigstens bei der jungen Frau. Aus dem Alltag der häuslichen Arbeit hatte sie sich sonst nach dem Feste des Vergnügens gesehnt; nun dies der Alltag geworden, zog die Sehnsucht nach dem stillen Leben daheim. Uebersättigt von den Ehrenbezeu¬ gungen der bedeutenden Leute, bemerkte sie nun erst, es gab auch andere: Leute, die ihren Gatten nach anderm Maaßstab maßen. Sie begann zu vergleichen, und die Bedeutenden verloren immer mehr gegen die Alltags¬ menschen. Sie dachte an den ledernen Ball den Abend
ſein Thun mit ihrer Erwartung zu vergleichen. Fritz Nettenmair fühlte in ihrer Seele, wie wenig beide ſich glichen. Er mühte ſich, den Widerwillen der jungen Frau zu ſeiner alten Stärke aufzuſtacheln. Er that es, während er fühlte, wie vergeblich es war, wie ein ein¬ ziger Blick auf das milde, rechtſchaffene Antlitz des Bruders niederreißen mußte, was er mühſam in Zeit von Tagen aufgebaut. Er fühlte, wie fein er zu Werke gehen mußte, und wie plump er doch zu Werke ging; wie dieſelbe Macht, die ſein Gefühl für das Maaß ſchärfte, ihn im Handeln darüber hinausriß. Er wußte, was er begonnen, mußte ſeinen Gang voll¬ enden zu ſeinem Verderben. Er ſuchte Vergeſſen, und riß ſeine Frau immer tiefer in den Wirbel der Zer¬ ſtreuung mit hinein.
Arzneimittel ſollen, in übergroßer Gabe angewandt, das Gegentheil wirken. So geſchah's mit dem Mittel Fritz Nettenmair's; wenigſtens bei der jungen Frau. Aus dem Alltag der häuslichen Arbeit hatte ſie ſich ſonſt nach dem Feſte des Vergnügens geſehnt; nun dies der Alltag geworden, zog die Sehnſucht nach dem ſtillen Leben daheim. Ueberſättigt von den Ehrenbezeu¬ gungen der bedeutenden Leute, bemerkte ſie nun erſt, es gab auch andere: Leute, die ihren Gatten nach anderm Maaßſtab maßen. Sie begann zu vergleichen, und die Bedeutenden verloren immer mehr gegen die Alltags¬ menſchen. Sie dachte an den ledernen Ball den Abend
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ſein Thun mit ihrer Erwartung zu vergleichen. Fritz
Nettenmair fühlte in ihrer Seele, wie wenig beide ſich
glichen. Er mühte ſich, den Widerwillen der jungen
Frau zu ſeiner alten Stärke aufzuſtacheln. Er that es,
während er fühlte, wie vergeblich es war, wie ein ein¬
ziger Blick auf das milde, rechtſchaffene Antlitz des
Bruders niederreißen mußte, was er mühſam in Zeit
von Tagen aufgebaut. Er fühlte, wie fein er zu
Werke gehen mußte, und wie plump er doch zu Werke
ging; wie dieſelbe Macht, die ſein Gefühl für das
Maaß ſchärfte, ihn im Handeln darüber hinausriß.
Er wußte, was er begonnen, mußte ſeinen Gang voll¬
enden zu ſeinem Verderben. Er ſuchte Vergeſſen, und
riß ſeine Frau immer tiefer in den Wirbel der Zer¬
ſtreuung mit hinein.
Arzneimittel ſollen, in übergroßer Gabe angewandt,
das Gegentheil wirken. So geſchah's mit dem Mittel
Fritz Nettenmair's; wenigſtens bei der jungen Frau.
Aus dem Alltag der häuslichen Arbeit hatte ſie ſich
ſonſt nach dem Feſte des Vergnügens geſehnt; nun
dies der Alltag geworden, zog die Sehnſucht nach dem
ſtillen Leben daheim. Ueberſättigt von den Ehrenbezeu¬
gungen der bedeutenden Leute, bemerkte ſie nun erſt, es
gab auch andere: Leute, die ihren Gatten nach anderm
Maaßſtab maßen. Sie begann zu vergleichen, und die
Bedeutenden verloren immer mehr gegen die Alltags¬
menſchen. Sie dachte an den ledernen Ball den Abend
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Ludwig, Otto: Zwischen Himmel und Erde. Frankfurt (Main), 1856, S. 88. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_himmel_1856/97>, abgerufen am 24.11.2024.
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