Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Ludwig, Carl: Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Bd. 1. Heidelberg, 1852.

Bild:
<< vorherige Seite

Die Nervenkräfte sind electrische.
aus der bekannten Wirkung des erregenden constanten electrischen
Stromes und der Gegenwart der electrischen Nervenmolekeln die Ver-
änderung des Nerven in einer den Thatsachen genau entsprechenden
Weise ableiten konnten. -- Aus den allgemeinen Umrissen, die wir
vom lebenden Nerven zu geben vermögen, gelingt es uns aber auch
noch ersichtlich zu machen, warum die Stärke, Art und Zeitdauer der
Erregung nicht in geradem Verhältniss von den erregenden Einflüssen
abhängig ist. Denn es übertragen die Erregungsmittel ihre Bewegun-
gen, ihre Anziehungen u. s. w. nicht auf eine ruhende Masse von ein-
facher Anordnung, sondern es treten ihre Wirkungen nur als neue zu
einer grösseren Zahl schon vorhandener mannigfach geordneter theils
freier theils gebundener Kräfte hinzu. In einem solchen Falle können, je
nachdem ein neuer Einfluss gebundene Kräfte frei macht, oder je nach-
dem er vorhandene Bewegung hemmt, die mannigfachsten Folgen ein-
treten. Gesetzt z. B. es bestände das erregte Mittel aus gleichartigen
Theilen, von denen ein jeder bei einer in ihnen eingeleiteten Veränderung
selbst so viel Kräfte entwickelte, um seinen Nachbar in den gleichen oder
ähnlichen Zustand der Veränderung zu bringen, so würde ersichtlich ein
Minimum äusserer Einwirkung, wie der Funken auf eine Pulvertonne
genügen, um ausserordentliche Folgen zu erzeugen, die zwar augen-
blicklich mit dem Eintritt des äussern Einflusses begonnen, aber ein-
mal eingeleitet von diesem ganz unabhängig wären. Gerade unter diese
Kategorie von Kraftanordnung scheint der Nerv zu gehören.

Diese Disproportionalität zwischen Erregung und Erregungsmittel gab den älte-
ren Physiologen Veranlassung zu der Meinung, dass der Nerv rücksichtlich der nach
einer empfangenen Kraftmittheilung entwickelten Bewegung ganz ausserhalb dem
Bereich physikalischer Gesetze stehe. In der That war die Erscheinung unerklärlich,
so lange man den erregbaren Zustand des Nerven als einfache Folge eines mehr oder
weniger angehäuften Nervenfluidums ansah. Zu der Zeit, als den Physiologen die
Erscheinung noch räthselhaft war, bot die Technik schon eine Menge von analogen
Fällen. Man hatte hier längst erkannt, dass die Disproportionalität nur daher rühre,
dass durch eine Einwirkung nicht einfache Kräfte übertragen, sondern bisher ge-
bundene freigemacht wurden. Die Technik bezeichnete darum diesen Fall mit dem
Namen der Auslösung der Kräfte. Nachdem nun auch hier in der Nervenlehre
der wahre Sachverhalt entwickelt ist, erscheint es unpassend auf die unklaren Vor-
stellungen älterer Physiologen, die sie unter dem Worte Reaction zusammenfassen
weiter einzugehen.

Die dritte unserer allgemeinsten Aufgaben, wie die Veränderung
des Nerven selbst Veranlassung zu derjenigen physiologisch beige-
ordneter Organe werde, ist möglicher Weise auch ohne die Erledigung
der vorhergehenden zu einem gewissen Ziele zu führen, wenn die
beigeordneten Organe nur selbst bekannt sind. Namentlich gewähren
hier die Muskeln (und die electrischen Organe der Fische) Hoffnung,
indem es gelingen könnte das ganze Problem nur als ein electrisches
aufzufassen, ohne Berücksichtigung der besondern Stoffe, von denen
die electrischen Wirkungen ausgehen.

Die Nervenkräfte sind electrische.
aus der bekannten Wirkung des erregenden constanten electrischen
Stromes und der Gegenwart der electrischen Nervenmolekeln die Ver-
änderung des Nerven in einer den Thatsachen genau entsprechenden
Weise ableiten konnten. — Aus den allgemeinen Umrissen, die wir
vom lebenden Nerven zu geben vermögen, gelingt es uns aber auch
noch ersichtlich zu machen, warum die Stärke, Art und Zeitdauer der
Erregung nicht in geradem Verhältniss von den erregenden Einflüssen
abhängig ist. Denn es übertragen die Erregungsmittel ihre Bewegun-
gen, ihre Anziehungen u. s. w. nicht auf eine ruhende Masse von ein-
facher Anordnung, sondern es treten ihre Wirkungen nur als neue zu
einer grösseren Zahl schon vorhandener mannigfach geordneter theils
freier theils gebundener Kräfte hinzu. In einem solchen Falle können, je
nachdem ein neuer Einfluss gebundene Kräfte frei macht, oder je nach-
dem er vorhandene Bewegung hemmt, die mannigfachsten Folgen ein-
treten. Gesetzt z. B. es bestände das erregte Mittel aus gleichartigen
Theilen, von denen ein jeder bei einer in ihnen eingeleiteten Veränderung
selbst so viel Kräfte entwickelte, um seinen Nachbar in den gleichen oder
ähnlichen Zustand der Veränderung zu bringen, so würde ersichtlich ein
Minimum äusserer Einwirkung, wie der Funken auf eine Pulvertonne
genügen, um ausserordentliche Folgen zu erzeugen, die zwar augen-
blicklich mit dem Eintritt des äussern Einflusses begonnen, aber ein-
mal eingeleitet von diesem ganz unabhängig wären. Gerade unter diese
Kategorie von Kraftanordnung scheint der Nerv zu gehören.

Diese Disproportionalität zwischen Erregung und Erregungsmittel gab den älte-
ren Physiologen Veranlassung zu der Meinung, dass der Nerv rücksichtlich der nach
einer empfangenen Kraftmittheilung entwickelten Bewegung ganz ausserhalb dem
Bereich physikalischer Gesetze stehe. In der That war die Erscheinung unerklärlich,
so lange man den erregbaren Zustand des Nerven als einfache Folge eines mehr oder
weniger angehäuften Nervenfluidums ansah. Zu der Zeit, als den Physiologen die
Erscheinung noch räthselhaft war, bot die Technik schon eine Menge von analogen
Fällen. Man hatte hier längst erkannt, dass die Disproportionalität nur daher rühre,
dass durch eine Einwirkung nicht einfache Kräfte übertragen, sondern bisher ge-
bundene freigemacht wurden. Die Technik bezeichnete darum diesen Fall mit dem
Namen der Auslösung der Kräfte. Nachdem nun auch hier in der Nervenlehre
der wahre Sachverhalt entwickelt ist, erscheint es unpassend auf die unklaren Vor-
stellungen älterer Physiologen, die sie unter dem Worte Reaction zusammenfassen
weiter einzugehen.

Die dritte unserer allgemeinsten Aufgaben, wie die Veränderung
des Nerven selbst Veranlassung zu derjenigen physiologisch beige-
ordneter Organe werde, ist möglicher Weise auch ohne die Erledigung
der vorhergehenden zu einem gewissen Ziele zu führen, wenn die
beigeordneten Organe nur selbst bekannt sind. Namentlich gewähren
hier die Muskeln (und die electrischen Organe der Fische) Hoffnung,
indem es gelingen könnte das ganze Problem nur als ein electrisches
aufzufassen, ohne Berücksichtigung der besondern Stoffe, von denen
die electrischen Wirkungen ausgehen.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0137" n="123"/><fw place="top" type="header">Die Nervenkräfte sind electrische.</fw><lb/>
aus der bekannten Wirkung des erregenden constanten electrischen<lb/>
Stromes und der Gegenwart der electrischen Nervenmolekeln die Ver-<lb/>
änderung des Nerven in einer den Thatsachen genau entsprechenden<lb/>
Weise ableiten konnten. &#x2014; Aus den allgemeinen Umrissen, die wir<lb/>
vom lebenden Nerven zu geben vermögen, gelingt es uns aber auch<lb/>
noch ersichtlich zu machen, warum die Stärke, Art und Zeitdauer der<lb/>
Erregung nicht in geradem Verhältniss von den erregenden Einflüssen<lb/>
abhängig ist. Denn es übertragen die Erregungsmittel ihre Bewegun-<lb/>
gen, ihre Anziehungen u. s. w. nicht auf eine ruhende Masse von ein-<lb/>
facher Anordnung, sondern es treten ihre Wirkungen nur als neue zu<lb/>
einer grösseren Zahl schon vorhandener mannigfach geordneter theils<lb/>
freier theils gebundener Kräfte hinzu. In einem solchen Falle können, je<lb/>
nachdem ein neuer Einfluss gebundene Kräfte frei macht, oder je nach-<lb/>
dem er vorhandene Bewegung hemmt, die mannigfachsten Folgen ein-<lb/>
treten. Gesetzt z. B. es bestände das erregte Mittel aus gleichartigen<lb/>
Theilen, von denen ein jeder bei einer in ihnen eingeleiteten Veränderung<lb/>
selbst so viel Kräfte entwickelte, um seinen Nachbar in den gleichen oder<lb/>
ähnlichen Zustand der Veränderung zu bringen, so würde ersichtlich ein<lb/>
Minimum äusserer Einwirkung, wie der Funken auf eine Pulvertonne<lb/>
genügen, um ausserordentliche Folgen zu erzeugen, die zwar augen-<lb/>
blicklich mit dem Eintritt des äussern Einflusses begonnen, aber ein-<lb/>
mal eingeleitet von diesem ganz unabhängig wären. Gerade unter diese<lb/>
Kategorie von Kraftanordnung scheint der Nerv zu gehören.</p><lb/>
            <p>Diese Disproportionalität zwischen Erregung und Erregungsmittel gab den älte-<lb/>
ren Physiologen Veranlassung zu der Meinung, dass der Nerv rücksichtlich der nach<lb/>
einer empfangenen Kraftmittheilung entwickelten Bewegung ganz ausserhalb dem<lb/>
Bereich physikalischer Gesetze stehe. In der That war die Erscheinung unerklärlich,<lb/>
so lange man den erregbaren Zustand des Nerven als einfache Folge eines mehr oder<lb/>
weniger angehäuften Nervenfluidums ansah. Zu der Zeit, als den Physiologen die<lb/>
Erscheinung noch räthselhaft war, bot die Technik schon eine Menge von analogen<lb/>
Fällen. Man hatte hier längst erkannt, dass die Disproportionalität nur daher rühre,<lb/>
dass durch eine Einwirkung nicht einfache Kräfte übertragen, sondern bisher ge-<lb/>
bundene freigemacht wurden. Die Technik bezeichnete darum diesen Fall mit dem<lb/>
Namen der <hi rendition="#g">Auslösung der Kräfte</hi>. Nachdem nun auch hier in der Nervenlehre<lb/>
der wahre Sachverhalt entwickelt ist, erscheint es unpassend auf die unklaren Vor-<lb/>
stellungen älterer Physiologen, die sie unter dem Worte <hi rendition="#g">Reaction</hi> zusammenfassen<lb/>
weiter einzugehen.</p><lb/>
            <p>Die dritte unserer allgemeinsten Aufgaben, wie die Veränderung<lb/>
des Nerven selbst Veranlassung zu derjenigen physiologisch beige-<lb/>
ordneter Organe werde, ist möglicher Weise auch ohne die Erledigung<lb/>
der vorhergehenden zu einem gewissen Ziele zu führen, wenn die<lb/>
beigeordneten Organe nur selbst bekannt sind. Namentlich gewähren<lb/>
hier die Muskeln (und die electrischen Organe der Fische) Hoffnung,<lb/>
indem es gelingen könnte das ganze Problem nur als ein electrisches<lb/>
aufzufassen, ohne Berücksichtigung der besondern Stoffe, von denen<lb/>
die electrischen Wirkungen ausgehen.</p>
          </div><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[123/0137] Die Nervenkräfte sind electrische. aus der bekannten Wirkung des erregenden constanten electrischen Stromes und der Gegenwart der electrischen Nervenmolekeln die Ver- änderung des Nerven in einer den Thatsachen genau entsprechenden Weise ableiten konnten. — Aus den allgemeinen Umrissen, die wir vom lebenden Nerven zu geben vermögen, gelingt es uns aber auch noch ersichtlich zu machen, warum die Stärke, Art und Zeitdauer der Erregung nicht in geradem Verhältniss von den erregenden Einflüssen abhängig ist. Denn es übertragen die Erregungsmittel ihre Bewegun- gen, ihre Anziehungen u. s. w. nicht auf eine ruhende Masse von ein- facher Anordnung, sondern es treten ihre Wirkungen nur als neue zu einer grösseren Zahl schon vorhandener mannigfach geordneter theils freier theils gebundener Kräfte hinzu. In einem solchen Falle können, je nachdem ein neuer Einfluss gebundene Kräfte frei macht, oder je nach- dem er vorhandene Bewegung hemmt, die mannigfachsten Folgen ein- treten. Gesetzt z. B. es bestände das erregte Mittel aus gleichartigen Theilen, von denen ein jeder bei einer in ihnen eingeleiteten Veränderung selbst so viel Kräfte entwickelte, um seinen Nachbar in den gleichen oder ähnlichen Zustand der Veränderung zu bringen, so würde ersichtlich ein Minimum äusserer Einwirkung, wie der Funken auf eine Pulvertonne genügen, um ausserordentliche Folgen zu erzeugen, die zwar augen- blicklich mit dem Eintritt des äussern Einflusses begonnen, aber ein- mal eingeleitet von diesem ganz unabhängig wären. Gerade unter diese Kategorie von Kraftanordnung scheint der Nerv zu gehören. Diese Disproportionalität zwischen Erregung und Erregungsmittel gab den älte- ren Physiologen Veranlassung zu der Meinung, dass der Nerv rücksichtlich der nach einer empfangenen Kraftmittheilung entwickelten Bewegung ganz ausserhalb dem Bereich physikalischer Gesetze stehe. In der That war die Erscheinung unerklärlich, so lange man den erregbaren Zustand des Nerven als einfache Folge eines mehr oder weniger angehäuften Nervenfluidums ansah. Zu der Zeit, als den Physiologen die Erscheinung noch räthselhaft war, bot die Technik schon eine Menge von analogen Fällen. Man hatte hier längst erkannt, dass die Disproportionalität nur daher rühre, dass durch eine Einwirkung nicht einfache Kräfte übertragen, sondern bisher ge- bundene freigemacht wurden. Die Technik bezeichnete darum diesen Fall mit dem Namen der Auslösung der Kräfte. Nachdem nun auch hier in der Nervenlehre der wahre Sachverhalt entwickelt ist, erscheint es unpassend auf die unklaren Vor- stellungen älterer Physiologen, die sie unter dem Worte Reaction zusammenfassen weiter einzugehen. Die dritte unserer allgemeinsten Aufgaben, wie die Veränderung des Nerven selbst Veranlassung zu derjenigen physiologisch beige- ordneter Organe werde, ist möglicher Weise auch ohne die Erledigung der vorhergehenden zu einem gewissen Ziele zu führen, wenn die beigeordneten Organe nur selbst bekannt sind. Namentlich gewähren hier die Muskeln (und die electrischen Organe der Fische) Hoffnung, indem es gelingen könnte das ganze Problem nur als ein electrisches aufzufassen, ohne Berücksichtigung der besondern Stoffe, von denen die electrischen Wirkungen ausgehen.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_physiologie01_1852
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_physiologie01_1852/137
Zitationshilfe: Ludwig, Carl: Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Bd. 1. Heidelberg, 1852, S. 123. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_physiologie01_1852/137>, abgerufen am 21.11.2024.