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Ludwig, Carl: Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Bd. 1. Heidelberg, 1852.

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Aufrechtsehen; Erklärungen desselben.
jetzt wiederum eine von beiden Oeffnungen so wird nicht das gesehene Bild der
entsprechenden Seite, sondern das entgegengesetzte ausgelöscht, wie es die Theorie
verlangt. -- Zu den Beispielen zählt ferner, dass man alle oberhalb der Sehachse ge-
legenen Gegenstände, welche ihr Bild unterhalb derselben auf der Retina projiziren,
oberhalb sieht, woher das vielberufene Aufrechtsehen des verkehrten Retinabild-
chens kömmt. -- Zur Erläuterung dieser Erscheinungen und insbesondere des
Nachaussensetzens der Lichtempfindung überhaupt, hat man hin und wieder der An-
nahme gehuldigt, als setze das Sehorgan während der Empfindung irgend etwas
Concretes nach aussen. Die Unklarheit dieses Erklärungsversuches wird sogleich
deutlich, wenn man fragt: was denn eigentlich nach aussen gesetzt werde; und wie
ein auf die Seele geschehener Eindruck als etwas Aeusseres empfunden werden kann,
wenn das Erregungsmittel neben einer von der Retina gegen das Hirn fortge-
pflanzten Wirkung noch eine zweite von der Retina gegen den Weltenraum drin-
gende erzielt (Valentin Lehrb. II. b. 174). -- Das Wort nach Aussensetzen ist nur ein
bildlicher Ausdruck, um die Erscheinung zu bezeichnen, dass die Seele einen im Hirn
vorhandenen Zustand seiner Ursache nach auf einen ausserhalb des Auges befindlichen
Gegenstand bezieht. Der empirische Beweiss für die Fähigkeit der Seele eine ir-
gendwie in ihr gebildete Sehvorstellung nach aussen zu setzen, liefert das allbe-
kannte Beispiel der Träume. Welche Wege nun aber eingeschlagen sind, um ein
solches Urtheil möglich zu machen, und es so zu befestigen, dass es trotz unseres
besseren Wissens nicht umgestossen werden kann und wie das immer scheinbar un-
vermittelt, als in einfache sinnliche Anschauung auftritt, lässt sich noch nicht
angeben. --

Die Richtung, in welcher das nach Aussensetzen vom Auge aus geschehen soll,
d. h. die Beziehung, welche zwischen der Lage der erregten Netzhautpartikeln und
der scheinbaren Lage der Bilder im Raume besteht, ist ebenfalls Gegenstand der
Controverse gewesen. Nach der Annahme von Joh. Müller sollen die empfindenden
Punkte die Ursache ihrer Erregung nicht in einer mit der Sehachse gekreuzten,
sondern in einer mit ihr gleichläufigen Richtung nach aussen projiziren, so dass ein
auf die untern Abschnitte der Retina treffender Lichtstrahl der von einem oberhalb der
Sehachse liegenden Gegenstand kommt, in seiner Empfindung nicht wieder schräg nach
oben, sondern gerade aus unten vor dem Auge gesehen wird.

Dem Einwurf, dass eine solche Projektion Verwirrungen im Sehen herbeifüh-
ren müsse, weil Alles am verkehrten Orte gesehen werde, begegnet Joh. Müller
mit Recht dadurch, dass er darauf aufmerksam macht, wie der Begriff des Verkehrt-
sehens nicht entstehen könne, wenn eine Umkehr aller Theile in derselben Ord-
nung stattfinde, in der sie im Raume gelegen seien. Diese Hypothese ist demge-
mäss nicht absurd, sie ist aber nicht in Uebereinstimmung mit den Thatsachen. Denn
nach ihr müsste die Lichterscheinung, welche wir mittelst eines Fingerdruckes auf
das geschlossene Auge erzeugen, nicht in einer diametralen Richtung, sondern in
gerader Richtung mit dem Drucke erscheinen; nun geschieht aber gerade das Umge-
kehrte, welches nichts anderes bedeutet, als dass wir alle von der unteren Hälfte der
Retina her entstehenden Empfindungen nach oben u. s. w. setzen.

Der für die Seele unwiderleglich festgestellte Zusammenhang,
welcher zwischen der Oertlichkeit der erregten Netzhautparthien und
der Sehrichtungen besteht, weisst auf die Gegenwart eines feststehen-
den Mechanismus hin, durch den die Seele in ihrem Urtheil bestimmt
wird. Man hat sich sehr bemüht, die besondere Natur desselben zu
errathen; unter den verschiedenen Versuchen hierzu trifft wahrschein-
lich nur einer eines der vielen Elemente, die hier möglicher Weise in
Betracht kommen. Wir meinen den Erklärungsversuch, welcher behaup-

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Aufrechtsehen; Erklärungen desselben.
jetzt wiederum eine von beiden Oeffnungen so wird nicht das gesehene Bild der
entsprechenden Seite, sondern das entgegengesetzte ausgelöscht, wie es die Theorie
verlangt. — Zu den Beispielen zählt ferner, dass man alle oberhalb der Sehachse ge-
legenen Gegenstände, welche ihr Bild unterhalb derselben auf der Retina projiziren,
oberhalb sieht, woher das vielberufene Aufrechtsehen des verkehrten Retinabild-
chens kömmt. — Zur Erläuterung dieser Erscheinungen und insbesondere des
Nachaussensetzens der Lichtempfindung überhaupt, hat man hin und wieder der An-
nahme gehuldigt, als setze das Sehorgan während der Empfindung irgend etwas
Concretes nach aussen. Die Unklarheit dieses Erklärungsversuches wird sogleich
deutlich, wenn man fragt: was denn eigentlich nach aussen gesetzt werde; und wie
ein auf die Seele geschehener Eindruck als etwas Aeusseres empfunden werden kann,
wenn das Erregungsmittel neben einer von der Retina gegen das Hirn fortge-
pflanzten Wirkung noch eine zweite von der Retina gegen den Weltenraum drin-
gende erzielt (Valentin Lehrb. II. b. 174). — Das Wort nach Aussensetzen ist nur ein
bildlicher Ausdruck, um die Erscheinung zu bezeichnen, dass die Seele einen im Hirn
vorhandenen Zustand seiner Ursache nach auf einen ausserhalb des Auges befindlichen
Gegenstand bezieht. Der empirische Beweiss für die Fähigkeit der Seele eine ir-
gendwie in ihr gebildete Sehvorstellung nach aussen zu setzen, liefert das allbe-
kannte Beispiel der Träume. Welche Wege nun aber eingeschlagen sind, um ein
solches Urtheil möglich zu machen, und es so zu befestigen, dass es trotz unseres
besseren Wissens nicht umgestossen werden kann und wie das immer scheinbar un-
vermittelt, als in einfache sinnliche Anschauung auftritt, lässt sich noch nicht
angeben. —

Die Richtung, in welcher das nach Aussensetzen vom Auge aus geschehen soll,
d. h. die Beziehung, welche zwischen der Lage der erregten Netzhautpartikeln und
der scheinbaren Lage der Bilder im Raume besteht, ist ebenfalls Gegenstand der
Controverse gewesen. Nach der Annahme von Joh. Müller sollen die empfindenden
Punkte die Ursache ihrer Erregung nicht in einer mit der Sehachse gekreuzten,
sondern in einer mit ihr gleichläufigen Richtung nach aussen projiziren, so dass ein
auf die untern Abschnitte der Retina treffender Lichtstrahl der von einem oberhalb der
Sehachse liegenden Gegenstand kommt, in seiner Empfindung nicht wieder schräg nach
oben, sondern gerade aus unten vor dem Auge gesehen wird.

Dem Einwurf, dass eine solche Projektion Verwirrungen im Sehen herbeifüh-
ren müsse, weil Alles am verkehrten Orte gesehen werde, begegnet Joh. Müller
mit Recht dadurch, dass er darauf aufmerksam macht, wie der Begriff des Verkehrt-
sehens nicht entstehen könne, wenn eine Umkehr aller Theile in derselben Ord-
nung stattfinde, in der sie im Raume gelegen seien. Diese Hypothese ist demge-
mäss nicht absurd, sie ist aber nicht in Uebereinstimmung mit den Thatsachen. Denn
nach ihr müsste die Lichterscheinung, welche wir mittelst eines Fingerdruckes auf
das geschlossene Auge erzeugen, nicht in einer diametralen Richtung, sondern in
gerader Richtung mit dem Drucke erscheinen; nun geschieht aber gerade das Umge-
kehrte, welches nichts anderes bedeutet, als dass wir alle von der unteren Hälfte der
Retina her entstehenden Empfindungen nach oben u. s. w. setzen.

Der für die Seele unwiderleglich festgestellte Zusammenhang,
welcher zwischen der Oertlichkeit der erregten Netzhautparthien und
der Sehrichtungen besteht, weisst auf die Gegenwart eines feststehen-
den Mechanismus hin, durch den die Seele in ihrem Urtheil bestimmt
wird. Man hat sich sehr bemüht, die besondere Natur desselben zu
errathen; unter den verschiedenen Versuchen hierzu trifft wahrschein-
lich nur einer eines der vielen Elemente, die hier möglicher Weise in
Betracht kommen. Wir meinen den Erklärungsversuch, welcher behaup-

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[243/0257] Aufrechtsehen; Erklärungen desselben. jetzt wiederum eine von beiden Oeffnungen so wird nicht das gesehene Bild der entsprechenden Seite, sondern das entgegengesetzte ausgelöscht, wie es die Theorie verlangt. — Zu den Beispielen zählt ferner, dass man alle oberhalb der Sehachse ge- legenen Gegenstände, welche ihr Bild unterhalb derselben auf der Retina projiziren, oberhalb sieht, woher das vielberufene Aufrechtsehen des verkehrten Retinabild- chens kömmt. — Zur Erläuterung dieser Erscheinungen und insbesondere des Nachaussensetzens der Lichtempfindung überhaupt, hat man hin und wieder der An- nahme gehuldigt, als setze das Sehorgan während der Empfindung irgend etwas Concretes nach aussen. Die Unklarheit dieses Erklärungsversuches wird sogleich deutlich, wenn man fragt: was denn eigentlich nach aussen gesetzt werde; und wie ein auf die Seele geschehener Eindruck als etwas Aeusseres empfunden werden kann, wenn das Erregungsmittel neben einer von der Retina gegen das Hirn fortge- pflanzten Wirkung noch eine zweite von der Retina gegen den Weltenraum drin- gende erzielt (Valentin Lehrb. II. b. 174). — Das Wort nach Aussensetzen ist nur ein bildlicher Ausdruck, um die Erscheinung zu bezeichnen, dass die Seele einen im Hirn vorhandenen Zustand seiner Ursache nach auf einen ausserhalb des Auges befindlichen Gegenstand bezieht. Der empirische Beweiss für die Fähigkeit der Seele eine ir- gendwie in ihr gebildete Sehvorstellung nach aussen zu setzen, liefert das allbe- kannte Beispiel der Träume. Welche Wege nun aber eingeschlagen sind, um ein solches Urtheil möglich zu machen, und es so zu befestigen, dass es trotz unseres besseren Wissens nicht umgestossen werden kann und wie das immer scheinbar un- vermittelt, als in einfache sinnliche Anschauung auftritt, lässt sich noch nicht angeben. — Die Richtung, in welcher das nach Aussensetzen vom Auge aus geschehen soll, d. h. die Beziehung, welche zwischen der Lage der erregten Netzhautpartikeln und der scheinbaren Lage der Bilder im Raume besteht, ist ebenfalls Gegenstand der Controverse gewesen. Nach der Annahme von Joh. Müller sollen die empfindenden Punkte die Ursache ihrer Erregung nicht in einer mit der Sehachse gekreuzten, sondern in einer mit ihr gleichläufigen Richtung nach aussen projiziren, so dass ein auf die untern Abschnitte der Retina treffender Lichtstrahl der von einem oberhalb der Sehachse liegenden Gegenstand kommt, in seiner Empfindung nicht wieder schräg nach oben, sondern gerade aus unten vor dem Auge gesehen wird. Dem Einwurf, dass eine solche Projektion Verwirrungen im Sehen herbeifüh- ren müsse, weil Alles am verkehrten Orte gesehen werde, begegnet Joh. Müller mit Recht dadurch, dass er darauf aufmerksam macht, wie der Begriff des Verkehrt- sehens nicht entstehen könne, wenn eine Umkehr aller Theile in derselben Ord- nung stattfinde, in der sie im Raume gelegen seien. Diese Hypothese ist demge- mäss nicht absurd, sie ist aber nicht in Uebereinstimmung mit den Thatsachen. Denn nach ihr müsste die Lichterscheinung, welche wir mittelst eines Fingerdruckes auf das geschlossene Auge erzeugen, nicht in einer diametralen Richtung, sondern in gerader Richtung mit dem Drucke erscheinen; nun geschieht aber gerade das Umge- kehrte, welches nichts anderes bedeutet, als dass wir alle von der unteren Hälfte der Retina her entstehenden Empfindungen nach oben u. s. w. setzen. Der für die Seele unwiderleglich festgestellte Zusammenhang, welcher zwischen der Oertlichkeit der erregten Netzhautparthien und der Sehrichtungen besteht, weisst auf die Gegenwart eines feststehen- den Mechanismus hin, durch den die Seele in ihrem Urtheil bestimmt wird. Man hat sich sehr bemüht, die besondere Natur desselben zu errathen; unter den verschiedenen Versuchen hierzu trifft wahrschein- lich nur einer eines der vielen Elemente, die hier möglicher Weise in Betracht kommen. Wir meinen den Erklärungsversuch, welcher behaup- 16*

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Zitationshilfe: Ludwig, Carl: Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Bd. 1. Heidelberg, 1852, S. 243. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_physiologie01_1852/257>, abgerufen am 24.11.2024.