Entfernung oder Näherung eines auf der Retina vorhandenen Nachbildes, je nach- dem man das Auge für die Ferne oder die Nähe accommodirt u. s. w.
Beim Sehen mit zwei Augen scheint der Accommodationsapparat eines jeden Auges in der Weise in die Bestimmung der Ferne mit einzugehen, dass die mittlere Wirkung beider das Maass abgibt. Hierfür scheint die Erfahrung zu sprechen, die man aus der Beobachtung eines linienförmigen Körpers gewinnt, den man seitlich von der Ange- sichtsfläche hält, so dass er dem einen Auge um ein beträchtliches näher steht, als dem andern. Dieser rückt aus seinem scheinbaren mittleren Abstand in die Ferne, wenn man das nähere Auge schliesst und umgekehrt aus dem scheinbaren mittlern Ab- stand in die Nähe, wenn das fernere Auge geschlossen wird, nachdem man vorher mit beiden Augen hinsah. Dieses Phänomen wird namentlich deutlich, wenn man rasch mit dem Schliessen der Augen wechselt, wobei der körperliche Streifen in deutliche Bewegung geräth.
Die Wirkung der Sehachsen Convergenz für die Bestimmung der Entfernung wird vollkommen klar, wenn man zergliedert, wie sich beim Sehen mit zwei Augen die Anschauung des Körperlichen entwickelt. Nach Brücke*), dem alle Späteren gefolgt sind, bildet sich die Anschauung eines jedweden Körpers nicht durch einen einzigen Blick, sondern aus einer Reihe rasch aufeinander folgender, deren zeitlich getrennte Wirkungen die Seele auf einen einzigen Zeit- moment bezieht. Diese Behauptung ist zunächst nur eine folgerechte Ableitung aus der bekannten Thatsache dass wir mit beiden Augen überhaupt nur eine unend- lich dünne Schicht des Raumes sehen, diejenige nämlich auf welche der Schnittpunkt beider Sehachsen eingestellt ist. Der empirische B[e]weiss für dieselbe ist aber leicht zu liefern, wenn man sich die Fähigkeit erworben hat, den stetigen in der Zeit erfol- genden Schwankungen des Convergenzwinkels der Sehachsen einen Zaum anzulegen und zugleich einen Körper zu den Augen in eine Lage bringt, bei welcher die einfache Auffassung der einander naheliegenden Punkte nur geschehen kann mit Hilfe starker Abweichungen in den erwähnten Winkeln. Hält man sich z. B. einen langen schmalen Stab, z. B ein Bleistift, senkrecht gegen die Angesichtsfläche auf die Nasenwurzel und fixirt einen beliebigen Punkt desselben, so wird man diesen Punkt einfach alle übrigen aber doppelt sehen, so dass der Stab aus zwei gekreuzten zu bestehen scheint. Je nach dem Orte, an welchem man beliebig die Sehachse zum Schneiden bringt, wird man bald das den Augen zu- oder abgewendete Ende einfach sehen.
In diesem Prinzip findet nun Brücke auch den Grund der perspectivischen Wir- kung der Stereoscope. Unter diesen letztern versteht man aber Einrichtungen, in welchen man gleichzeitig mit den beiden Augen zwei perspectivische Bilder eines und desselben Körpers betrachtet und zwar so, dass jedes der beiden Augen nur die ihm angehörige perspectivische Zeichnung ansieht. Die Ueberzeugung dass ein Gegenstand, der gleichzeitig mit beiden Augen betrachtet wird für jedes dieser letzteren ein be- sonderes Bild entwirft und dass wir nur irrthümlich ein einziges zu sehen glauben, wird man sogleich erhalten, wenn man einen beliebigen Körper, z. B. einen abgestutz- ten Kegel, der Nasenwurzel gegenüber vor beide Augen hält und nun wechselnd das eine und das andere schliesst. Entwirft man sich nun zwei perspektivische Ansichten dieses Kegels, die eine für das rechte, die andere für das linke Auge, so hat man damit zwei der verlangten stereoscopischen Zeichnungen. Die Mittel aber, um diese Zeichnungen in verlangter Weise vor die Augen zu führen, sind sehr mannigfaltige; Wheatstone, der überhaupt zuerst den Gedanken fasste, Bilder von rechter und linker Perspektive zu entwerfen und zu beobachten, wendete das auf S. 251 erwähnte Spiegelstereoskop an; dasselbe leisten zwei Röhren, Prismen u. s. w. --
Wir werden nun einen einfachen Fall stereoskopischer Betrachtung nach der Brücke'schen Erläuterung behandeln. -- Wenn wir einen abgestutzten Kegel vor die beiden Augen halten, so dass er ihnen die abgestumpfte Spitze zuwendet, und seine
*)Müllers Archiv. 1841. l. C.
Stereoscop und seine Anwendung.
Entfernung oder Näherung eines auf der Retina vorhandenen Nachbildes, je nach- dem man das Auge für die Ferne oder die Nähe accommodirt u. s. w.
Beim Sehen mit zwei Augen scheint der Accommodationsapparat eines jeden Auges in der Weise in die Bestimmung der Ferne mit einzugehen, dass die mittlere Wirkung beider das Maass abgibt. Hierfür scheint die Erfahrung zu sprechen, die man aus der Beobachtung eines linienförmigen Körpers gewinnt, den man seitlich von der Ange- sichtsfläche hält, so dass er dem einen Auge um ein beträchtliches näher steht, als dem andern. Dieser rückt aus seinem scheinbaren mittleren Abstand in die Ferne, wenn man das nähere Auge schliesst und umgekehrt aus dem scheinbaren mittlern Ab- stand in die Nähe, wenn das fernere Auge geschlossen wird, nachdem man vorher mit beiden Augen hinsah. Dieses Phänomen wird namentlich deutlich, wenn man rasch mit dem Schliessen der Augen wechselt, wobei der körperliche Streifen in deutliche Bewegung geräth.
Die Wirkung der Sehachsen Convergenz für die Bestimmung der Entfernung wird vollkommen klar, wenn man zergliedert, wie sich beim Sehen mit zwei Augen die Anschauung des Körperlichen entwickelt. Nach Brücke*), dem alle Späteren gefolgt sind, bildet sich die Anschauung eines jedweden Körpers nicht durch einen einzigen Blick, sondern aus einer Reihe rasch aufeinander folgender, deren zeitlich getrennte Wirkungen die Seele auf einen einzigen Zeit- moment bezieht. Diese Behauptung ist zunächst nur eine folgerechte Ableitung aus der bekannten Thatsache dass wir mit beiden Augen überhaupt nur eine unend- lich dünne Schicht des Raumes sehen, diejenige nämlich auf welche der Schnittpunkt beider Sehachsen eingestellt ist. Der empirische B[e]weiss für dieselbe ist aber leicht zu liefern, wenn man sich die Fähigkeit erworben hat, den stetigen in der Zeit erfol- genden Schwankungen des Convergenzwinkels der Sehachsen einen Zaum anzulegen und zugleich einen Körper zu den Augen in eine Lage bringt, bei welcher die einfache Auffassung der einander naheliegenden Punkte nur geschehen kann mit Hilfe starker Abweichungen in den erwähnten Winkeln. Hält man sich z. B. einen langen schmalen Stab, z. B ein Bleistift, senkrecht gegen die Angesichtsfläche auf die Nasenwurzel und fixirt einen beliebigen Punkt desselben, so wird man diesen Punkt einfach alle übrigen aber doppelt sehen, so dass der Stab aus zwei gekreuzten zu bestehen scheint. Je nach dem Orte, an welchem man beliebig die Sehachse zum Schneiden bringt, wird man bald das den Augen zu- oder abgewendete Ende einfach sehen.
In diesem Prinzip findet nun Brücke auch den Grund der perspectivischen Wir- kung der Stereoscope. Unter diesen letztern versteht man aber Einrichtungen, in welchen man gleichzeitig mit den beiden Augen zwei perspectivische Bilder eines und desselben Körpers betrachtet und zwar so, dass jedes der beiden Augen nur die ihm angehörige perspectivische Zeichnung ansieht. Die Ueberzeugung dass ein Gegenstand, der gleichzeitig mit beiden Augen betrachtet wird für jedes dieser letzteren ein be- sonderes Bild entwirft und dass wir nur irrthümlich ein einziges zu sehen glauben, wird man sogleich erhalten, wenn man einen beliebigen Körper, z. B. einen abgestutz- ten Kegel, der Nasenwurzel gegenüber vor beide Augen hält und nun wechselnd das eine und das andere schliesst. Entwirft man sich nun zwei perspektivische Ansichten dieses Kegels, die eine für das rechte, die andere für das linke Auge, so hat man damit zwei der verlangten stereoscopischen Zeichnungen. Die Mittel aber, um diese Zeichnungen in verlangter Weise vor die Augen zu führen, sind sehr mannigfaltige; Wheatstone, der überhaupt zuerst den Gedanken fasste, Bilder von rechter und linker Perspektive zu entwerfen und zu beobachten, wendete das auf S. 251 erwähnte Spiegelstereoskop an; dasselbe leisten zwei Röhren, Prismen u. s. w. —
Wir werden nun einen einfachen Fall stereoskopischer Betrachtung nach der Brücke’schen Erläuterung behandeln. — Wenn wir einen abgestutzten Kegel vor die beiden Augen halten, so dass er ihnen die abgestumpfte Spitze zuwendet, und seine
*)Müllers Archiv. 1841. l. C.
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[256/0270]
Stereoscop und seine Anwendung.
Entfernung oder Näherung eines auf der Retina vorhandenen Nachbildes, je nach-
dem man das Auge für die Ferne oder die Nähe accommodirt u. s. w.
Beim Sehen mit zwei Augen scheint der Accommodationsapparat eines jeden Auges
in der Weise in die Bestimmung der Ferne mit einzugehen, dass die mittlere Wirkung
beider das Maass abgibt. Hierfür scheint die Erfahrung zu sprechen, die man aus der
Beobachtung eines linienförmigen Körpers gewinnt, den man seitlich von der Ange-
sichtsfläche hält, so dass er dem einen Auge um ein beträchtliches näher steht, als dem
andern. Dieser rückt aus seinem scheinbaren mittleren Abstand in die Ferne, wenn
man das nähere Auge schliesst und umgekehrt aus dem scheinbaren mittlern Ab-
stand in die Nähe, wenn das fernere Auge geschlossen wird, nachdem man vorher
mit beiden Augen hinsah. Dieses Phänomen wird namentlich deutlich, wenn man
rasch mit dem Schliessen der Augen wechselt, wobei der körperliche Streifen in
deutliche Bewegung geräth.
Die Wirkung der Sehachsen Convergenz für die Bestimmung der Entfernung
wird vollkommen klar, wenn man zergliedert, wie sich beim Sehen mit zwei
Augen die Anschauung des Körperlichen entwickelt. Nach Brücke *), dem
alle Späteren gefolgt sind, bildet sich die Anschauung eines jedweden Körpers
nicht durch einen einzigen Blick, sondern aus einer Reihe rasch aufeinander
folgender, deren zeitlich getrennte Wirkungen die Seele auf einen einzigen Zeit-
moment bezieht. Diese Behauptung ist zunächst nur eine folgerechte Ableitung
aus der bekannten Thatsache dass wir mit beiden Augen überhaupt nur eine unend-
lich dünne Schicht des Raumes sehen, diejenige nämlich auf welche der Schnittpunkt
beider Sehachsen eingestellt ist. Der empirische Beweiss für dieselbe ist aber leicht
zu liefern, wenn man sich die Fähigkeit erworben hat, den stetigen in der Zeit erfol-
genden Schwankungen des Convergenzwinkels der Sehachsen einen Zaum anzulegen
und zugleich einen Körper zu den Augen in eine Lage bringt, bei welcher die einfache
Auffassung der einander naheliegenden Punkte nur geschehen kann mit Hilfe starker
Abweichungen in den erwähnten Winkeln. Hält man sich z. B. einen langen schmalen
Stab, z. B ein Bleistift, senkrecht gegen die Angesichtsfläche auf die Nasenwurzel
und fixirt einen beliebigen Punkt desselben, so wird man diesen Punkt einfach alle
übrigen aber doppelt sehen, so dass der Stab aus zwei gekreuzten zu bestehen scheint.
Je nach dem Orte, an welchem man beliebig die Sehachse zum Schneiden bringt,
wird man bald das den Augen zu- oder abgewendete Ende einfach sehen.
In diesem Prinzip findet nun Brücke auch den Grund der perspectivischen Wir-
kung der Stereoscope. Unter diesen letztern versteht man aber Einrichtungen, in
welchen man gleichzeitig mit den beiden Augen zwei perspectivische Bilder eines und
desselben Körpers betrachtet und zwar so, dass jedes der beiden Augen nur die ihm
angehörige perspectivische Zeichnung ansieht. Die Ueberzeugung dass ein Gegenstand,
der gleichzeitig mit beiden Augen betrachtet wird für jedes dieser letzteren ein be-
sonderes Bild entwirft und dass wir nur irrthümlich ein einziges zu sehen glauben,
wird man sogleich erhalten, wenn man einen beliebigen Körper, z. B. einen abgestutz-
ten Kegel, der Nasenwurzel gegenüber vor beide Augen hält und nun wechselnd das eine
und das andere schliesst. Entwirft man sich nun zwei perspektivische Ansichten dieses
Kegels, die eine für das rechte, die andere für das linke Auge, so hat man damit zwei
der verlangten stereoscopischen Zeichnungen. Die Mittel aber, um diese Zeichnungen
in verlangter Weise vor die Augen zu führen, sind sehr mannigfaltige; Wheatstone,
der überhaupt zuerst den Gedanken fasste, Bilder von rechter und linker Perspektive
zu entwerfen und zu beobachten, wendete das auf S. 251 erwähnte Spiegelstereoskop
an; dasselbe leisten zwei Röhren, Prismen u. s. w. —
Wir werden nun einen einfachen Fall stereoskopischer Betrachtung nach der
Brücke’schen Erläuterung behandeln. — Wenn wir einen abgestutzten Kegel vor die
beiden Augen halten, so dass er ihnen die abgestumpfte Spitze zuwendet, und seine
*) Müllers Archiv. 1841. l. C.
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Ludwig, Carl: Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Bd. 1. Heidelberg, 1852, S. 256. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_physiologie01_1852/270>, abgerufen am 24.11.2024.
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