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Ludwig, Carl: Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Bd. 1. Heidelberg, 1852.

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Wärmesinn.
des oder Zuges, auf die Bestimmung der Form eines complizirten Kör-
pers aus der Betastung weniger Flächen desselben, und endlich auf
die Bestimmung des Ortes, an welchem sich der empfindungerregende
Körper befindet.

Zu den hier erwähnten Erscheinungen, die im Zusammenhang bei dem sog. Mus-
kelsinn noch eine Besprechung finden werden, zählt a. Wir sind im Stande einen
viel geringeren Unterschied zweier Gewichte beim Emporheben derselben aufzu-
fassen, als beim Auflegen derselben auf die Hand; ebenso können wir bei leisen
Bewegungen des Kopfs eine an die Haare angebrachte Zugwirkung ihrer Rich-
tung nach sehr genau bestimmen. b. Bei der Bestimmung der Form eines der Be-
tastung unterworfenen Körpers erweist sich der Einfluss der Bewegungen auf
die Beurtheilung der von den Hautflächen gelieferten Empfindung in der Weise
helfend, dass wir dieselben Empfindungen als Folge ganz verschiedener Formen
erklären, je nach der Stellung, welche die Tastflächen bei der jeweiligen Be-
rührung zu einander besassen. So werden z. B. bekanntlich zwei Kugelflächen
als convergirend (zu einer Kugel gehörig) angesehen, wenn wir sie mit den
in der gewöhnlichen Fingerstellung einander zugekehrten Rändern der Finger-
spitzen umgreifen; dieselben Kugelflächen werden aber als divergirend (als zwei
verschiedenen Kugelflächen zugehörig) angesehen, wenn wir sie mit zwei im Ruhe-
zustand von einander abgewendeten Flächen der Fingerspitzen, wie diess beim Ueber-
einanderschlagen der Finger möglich ist, umfassen. c. Endlich empfinden wir viele
Eindrücke gleichzeitig in einer grösseren und geringeren Entfernung von den em-
pfindlichen Flächen, wenn diese Bewegungen ausführen. Weber hat darauf auf-
merksam gemacht, dass z. B. ein Stäbchen, welches wir auf den Tisch setzen, und
auf diesem bewegen, zwei Empfindungen veranlasst, von denen die eine an der Be-
rührungsstelle der Finger und des Stäbchens und die andere an der des Tisches und
Stäbchens gelegen ist. Dieser letztere Empfindungsort wird vorzugsweise beim sog.
Sondiren den Aerzten von Bedeutung. Als Sonden, die an dem menschlichen Orga-
nismus angewachsen sind, und demgemäss nur eine Empfindung, an ihren freien
Enden veranlassen, müssen die Zähne betrachtet werden.

5. Wärmesinn. Die freie Wärme erzeugt uns nur die Empfin-
dungen der Temperatur, wenn sie innerhalb gleich anzugebender
Grenzen Schwankungen in ihrer Intensität erleidet; sie büsst in diesen
Grenzen ihre erregenden Wirkungen ein, wenn sie in constanter Stärke
auf die Haut einwirkt; mit andern Worten: ein constanter Thermometer-
stand wird innerhalb der anzugebenden Grenzen nicht empfunden,
wohl aber seine Veränderung und zwar begleitet das Steigen der
Quecksilbersäule die Empfindung der Wärme und das Sinken derselben
die der Kälte. -- Aber nur Schwankungen der Temperatur in engen
Grenzen bedingen Wärme- oder Kälteempfindungen; wenn sie unter
+ 10 bis 11° C. sinkt und auf + 46 bis 47° C. steigt, so ruft sie
Schmerz hervor.

Wie wenig eine constante Temperatur Empfindungen erweckt, beweist die That-
sache, dass wir eine verschiedene Temperatur unserer Hautflächen, z. B. der Stirn
und Finger, erst gewahren, wenn wir sie in gegenseitige Berührung bringen; d. h.
wenn wir das eine Glied auf Kosten des andern abkühlen.

Das Vermögen Temperaturunterschiede wahrzunehmen, scheint
innerhalb der angegebenen Grenzen unabhängig von dem absoluten
Stand des Thermometers; indem wir nach Weber + 14° von + 14,4° R.

Wärmesinn.
des oder Zuges, auf die Bestimmung der Form eines complizirten Kör-
pers aus der Betastung weniger Flächen desselben, und endlich auf
die Bestimmung des Ortes, an welchem sich der empfindungerregende
Körper befindet.

Zu den hier erwähnten Erscheinungen, die im Zusammenhang bei dem sog. Mus-
kelsinn noch eine Besprechung finden werden, zählt a. Wir sind im Stande einen
viel geringeren Unterschied zweier Gewichte beim Emporheben derselben aufzu-
fassen, als beim Auflegen derselben auf die Hand; ebenso können wir bei leisen
Bewegungen des Kopfs eine an die Haare angebrachte Zugwirkung ihrer Rich-
tung nach sehr genau bestimmen. b. Bei der Bestimmung der Form eines der Be-
tastung unterworfenen Körpers erweist sich der Einfluss der Bewegungen auf
die Beurtheilung der von den Hautflächen gelieferten Empfindung in der Weise
helfend, dass wir dieselben Empfindungen als Folge ganz verschiedener Formen
erklären, je nach der Stellung, welche die Tastflächen bei der jeweiligen Be-
rührung zu einander besassen. So werden z. B. bekanntlich zwei Kugelflächen
als convergirend (zu einer Kugel gehörig) angesehen, wenn wir sie mit den
in der gewöhnlichen Fingerstellung einander zugekehrten Rändern der Finger-
spitzen umgreifen; dieselben Kugelflächen werden aber als divergirend (als zwei
verschiedenen Kugelflächen zugehörig) angesehen, wenn wir sie mit zwei im Ruhe-
zustand von einander abgewendeten Flächen der Fingerspitzen, wie diess beim Ueber-
einanderschlagen der Finger möglich ist, umfassen. c. Endlich empfinden wir viele
Eindrücke gleichzeitig in einer grösseren und geringeren Entfernung von den em-
pfindlichen Flächen, wenn diese Bewegungen ausführen. Weber hat darauf auf-
merksam gemacht, dass z. B. ein Stäbchen, welches wir auf den Tisch setzen, und
auf diesem bewegen, zwei Empfindungen veranlasst, von denen die eine an der Be-
rührungsstelle der Finger und des Stäbchens und die andere an der des Tisches und
Stäbchens gelegen ist. Dieser letztere Empfindungsort wird vorzugsweise beim sog.
Sondiren den Aerzten von Bedeutung. Als Sonden, die an dem menschlichen Orga-
nismus angewachsen sind, und demgemäss nur eine Empfindung, an ihren freien
Enden veranlassen, müssen die Zähne betrachtet werden.

5. Wärmesinn. Die freie Wärme erzeugt uns nur die Empfin-
dungen der Temperatur, wenn sie innerhalb gleich anzugebender
Grenzen Schwankungen in ihrer Intensität erleidet; sie büsst in diesen
Grenzen ihre erregenden Wirkungen ein, wenn sie in constanter Stärke
auf die Haut einwirkt; mit andern Worten: ein constanter Thermometer-
stand wird innerhalb der anzugebenden Grenzen nicht empfunden,
wohl aber seine Veränderung und zwar begleitet das Steigen der
Quecksilbersäule die Empfindung der Wärme und das Sinken derselben
die der Kälte. — Aber nur Schwankungen der Temperatur in engen
Grenzen bedingen Wärme- oder Kälteempfindungen; wenn sie unter
+ 10 bis 11° C. sinkt und auf + 46 bis 47° C. steigt, so ruft sie
Schmerz hervor.

Wie wenig eine constante Temperatur Empfindungen erweckt, beweist die That-
sache, dass wir eine verschiedene Temperatur unserer Hautflächen, z. B. der Stirn
und Finger, erst gewahren, wenn wir sie in gegenseitige Berührung bringen; d. h.
wenn wir das eine Glied auf Kosten des andern abkühlen.

Das Vermögen Temperaturunterschiede wahrzunehmen, scheint
innerhalb der angegebenen Grenzen unabhängig von dem absoluten
Stand des Thermometers; indem wir nach Weber + 14° von + 14,4° R.

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[309/0323] Wärmesinn. des oder Zuges, auf die Bestimmung der Form eines complizirten Kör- pers aus der Betastung weniger Flächen desselben, und endlich auf die Bestimmung des Ortes, an welchem sich der empfindungerregende Körper befindet. Zu den hier erwähnten Erscheinungen, die im Zusammenhang bei dem sog. Mus- kelsinn noch eine Besprechung finden werden, zählt a. Wir sind im Stande einen viel geringeren Unterschied zweier Gewichte beim Emporheben derselben aufzu- fassen, als beim Auflegen derselben auf die Hand; ebenso können wir bei leisen Bewegungen des Kopfs eine an die Haare angebrachte Zugwirkung ihrer Rich- tung nach sehr genau bestimmen. b. Bei der Bestimmung der Form eines der Be- tastung unterworfenen Körpers erweist sich der Einfluss der Bewegungen auf die Beurtheilung der von den Hautflächen gelieferten Empfindung in der Weise helfend, dass wir dieselben Empfindungen als Folge ganz verschiedener Formen erklären, je nach der Stellung, welche die Tastflächen bei der jeweiligen Be- rührung zu einander besassen. So werden z. B. bekanntlich zwei Kugelflächen als convergirend (zu einer Kugel gehörig) angesehen, wenn wir sie mit den in der gewöhnlichen Fingerstellung einander zugekehrten Rändern der Finger- spitzen umgreifen; dieselben Kugelflächen werden aber als divergirend (als zwei verschiedenen Kugelflächen zugehörig) angesehen, wenn wir sie mit zwei im Ruhe- zustand von einander abgewendeten Flächen der Fingerspitzen, wie diess beim Ueber- einanderschlagen der Finger möglich ist, umfassen. c. Endlich empfinden wir viele Eindrücke gleichzeitig in einer grösseren und geringeren Entfernung von den em- pfindlichen Flächen, wenn diese Bewegungen ausführen. Weber hat darauf auf- merksam gemacht, dass z. B. ein Stäbchen, welches wir auf den Tisch setzen, und auf diesem bewegen, zwei Empfindungen veranlasst, von denen die eine an der Be- rührungsstelle der Finger und des Stäbchens und die andere an der des Tisches und Stäbchens gelegen ist. Dieser letztere Empfindungsort wird vorzugsweise beim sog. Sondiren den Aerzten von Bedeutung. Als Sonden, die an dem menschlichen Orga- nismus angewachsen sind, und demgemäss nur eine Empfindung, an ihren freien Enden veranlassen, müssen die Zähne betrachtet werden. 5. Wärmesinn. Die freie Wärme erzeugt uns nur die Empfin- dungen der Temperatur, wenn sie innerhalb gleich anzugebender Grenzen Schwankungen in ihrer Intensität erleidet; sie büsst in diesen Grenzen ihre erregenden Wirkungen ein, wenn sie in constanter Stärke auf die Haut einwirkt; mit andern Worten: ein constanter Thermometer- stand wird innerhalb der anzugebenden Grenzen nicht empfunden, wohl aber seine Veränderung und zwar begleitet das Steigen der Quecksilbersäule die Empfindung der Wärme und das Sinken derselben die der Kälte. — Aber nur Schwankungen der Temperatur in engen Grenzen bedingen Wärme- oder Kälteempfindungen; wenn sie unter + 10 bis 11° C. sinkt und auf + 46 bis 47° C. steigt, so ruft sie Schmerz hervor. Wie wenig eine constante Temperatur Empfindungen erweckt, beweist die That- sache, dass wir eine verschiedene Temperatur unserer Hautflächen, z. B. der Stirn und Finger, erst gewahren, wenn wir sie in gegenseitige Berührung bringen; d. h. wenn wir das eine Glied auf Kosten des andern abkühlen. Das Vermögen Temperaturunterschiede wahrzunehmen, scheint innerhalb der angegebenen Grenzen unabhängig von dem absoluten Stand des Thermometers; indem wir nach Weber + 14° von + 14,4° R.

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Zitationshilfe: Ludwig, Carl: Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Bd. 1. Heidelberg, 1852, S. 309. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_physiologie01_1852/323>, abgerufen am 21.11.2024.