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Ludwig, Carl: Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Bd. 1. Heidelberg, 1852.

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Muskelgefühle. Zur Theorie des Muskelsinns.
folge ihres Nachlasses Empfindungen, die mit dem ganz bestimmten
Bewusstsein vom Orte der Empfindung begleitet sind. --

Diese Empfindungen sind ebenfalls von E. H. Weber genauer
untersucht. Während die Muskeln auf Brennen und Schneiden etc.
kaum eine Empfindung geben, erwecken sie einen fast unerträglichen
Schmerz durch sehr intensive Zusammenziehung (z. B. beim Waden-
krampf), oder wenn sie sehr lange, selbst in sehr mässiger Zusam-
menziehung erhalten wurden (Ermüdung). In diesem letzten Fall
überdauert der Schmerz die Zusammenziehung oft sehr lange Zeit.
Diese Empfindung tritt auch in den unwillkürlich beweglichen Muskeln
wie in denen der Därme, dem Uterus, vielleicht in der Contraktion des
Magens (als Hunger?) oder der glatten Muskelfasern der cutis (als
Ameisenkriechen, Kitzeln u. dgl.) ein.

c. Es scheint, als ob einige Muskeln im Stande wären (vermittelst
der Nerven) dem verlängerten Mark oder andern Hirntheilen durch
den Zustand der Zusammenziehung Erregungen mitzutheilen, welche
Reflexbewegungen in andern Muskeln auslössten. Diese Fälle scheinen
selten zu sein und ihre Erklärung steht noch nicht ganz fest, wir ver-
weisen auf die Schlund- und Darmbewegung bei der Lehre von der
Verdauung.

Ob die Nerven, die dem Muskelsinne dienen, und diejenigen, welche
die Muskelbewegung veranlassen dieselben sind, ist gegenwärtig
schwer zu entscheiden. *) Es wäre denkbar und nicht unwahrschein-
lich, dass alle Einflüsse, welche durch willkürliche Nerven auf unsere
Vorstellungen und sinnlichen Urtheile ausgeübt werden, sogleich durch
den Akt der willkürlichen Erregung geschehen, so dass die Willens-
anstrengung nach einer oder der andern Richtung hin als ein Element
in unser Urtheil aufgenommen würde. Diese Meinung findet ihre
Stütze darin, dass die das Urtheil bestimmenden Bewegungen in
den überwiegend meisten Fällen gar nicht als Muskelempfindungen
auftreten. -- Anderseits ist es dagegen wahrscheinlich, dass die
Muskelgefühle und Muskelschmerzen sogenannten sensiblen Ner-
venröhren ihren Ursprung verdanken, weil 1. fast allen ursprünglich
nur motorischen Nervenwurzeln auf ihrem Weg zu den Muskeln
sensible beigemengt werden; so den n. n. facialis, oculomotorius, hypo-
glossus u. s. w. 2. Weil man in unwillkürlich beweglichen Muskeln
ebenso heftige Schmerzen empfindet, als in willkührlich beweglichen.
3. Weil selbst die heftigsten Erregungsmittel auf die mit dem Rücken-
mark und Hirn in Verbindung stehenden vordern oder motorischen Ner-
venwurzeln angewendet keinen Schmerz erzeugen (Bellsches Gesetz.)
4. Weil endlich die nach dauernden Anstrengungen in den Muskeln ent-
stehenden Schmerzen noch Stunden und selbst Tage lang nach dem Auf-
hören der Erregung motorischer Nerven bestehen. Das Unternehmen

*) Spiess, Physiologie des Nervensystems. Braunschweig 1844. p. 76.

Muskelgefühle. Zur Theorie des Muskelsinns.
folge ihres Nachlasses Empfindungen, die mit dem ganz bestimmten
Bewusstsein vom Orte der Empfindung begleitet sind. —

Diese Empfindungen sind ebenfalls von E. H. Weber genauer
untersucht. Während die Muskeln auf Brennen und Schneiden etc.
kaum eine Empfindung geben, erwecken sie einen fast unerträglichen
Schmerz durch sehr intensive Zusammenziehung (z. B. beim Waden-
krampf), oder wenn sie sehr lange, selbst in sehr mässiger Zusam-
menziehung erhalten wurden (Ermüdung). In diesem letzten Fall
überdauert der Schmerz die Zusammenziehung oft sehr lange Zeit.
Diese Empfindung tritt auch in den unwillkürlich beweglichen Muskeln
wie in denen der Därme, dem Uterus, vielleicht in der Contraktion des
Magens (als Hunger?) oder der glatten Muskelfasern der cutis (als
Ameisenkriechen, Kitzeln u. dgl.) ein.

c. Es scheint, als ob einige Muskeln im Stande wären (vermittelst
der Nerven) dem verlängerten Mark oder andern Hirntheilen durch
den Zustand der Zusammenziehung Erregungen mitzutheilen, welche
Reflexbewegungen in andern Muskeln auslössten. Diese Fälle scheinen
selten zu sein und ihre Erklärung steht noch nicht ganz fest, wir ver-
weisen auf die Schlund- und Darmbewegung bei der Lehre von der
Verdauung.

Ob die Nerven, die dem Muskelsinne dienen, und diejenigen, welche
die Muskelbewegung veranlassen dieselben sind, ist gegenwärtig
schwer zu entscheiden. *) Es wäre denkbar und nicht unwahrschein-
lich, dass alle Einflüsse, welche durch willkürliche Nerven auf unsere
Vorstellungen und sinnlichen Urtheile ausgeübt werden, sogleich durch
den Akt der willkürlichen Erregung geschehen, so dass die Willens-
anstrengung nach einer oder der andern Richtung hin als ein Element
in unser Urtheil aufgenommen würde. Diese Meinung findet ihre
Stütze darin, dass die das Urtheil bestimmenden Bewegungen in
den überwiegend meisten Fällen gar nicht als Muskelempfindungen
auftreten. — Anderseits ist es dagegen wahrscheinlich, dass die
Muskelgefühle und Muskelschmerzen sogenannten sensiblen Ner-
venröhren ihren Ursprung verdanken, weil 1. fast allen ursprünglich
nur motorischen Nervenwurzeln auf ihrem Weg zu den Muskeln
sensible beigemengt werden; so den n. n. facialis, oculomotorius, hypo-
glossus u. s. w. 2. Weil man in unwillkürlich beweglichen Muskeln
ebenso heftige Schmerzen empfindet, als in willkührlich beweglichen.
3. Weil selbst die heftigsten Erregungsmittel auf die mit dem Rücken-
mark und Hirn in Verbindung stehenden vordern oder motorischen Ner-
venwurzeln angewendet keinen Schmerz erzeugen (Bellsches Gesetz.)
4. Weil endlich die nach dauernden Anstrengungen in den Muskeln ent-
stehenden Schmerzen noch Stunden und selbst Tage lang nach dem Auf-
hören der Erregung motorischer Nerven bestehen. Das Unternehmen

*) Spiess, Physiologie des Nervensystems. Braunschweig 1844. p. 76.
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[361/0375] Muskelgefühle. Zur Theorie des Muskelsinns. folge ihres Nachlasses Empfindungen, die mit dem ganz bestimmten Bewusstsein vom Orte der Empfindung begleitet sind. — Diese Empfindungen sind ebenfalls von E. H. Weber genauer untersucht. Während die Muskeln auf Brennen und Schneiden etc. kaum eine Empfindung geben, erwecken sie einen fast unerträglichen Schmerz durch sehr intensive Zusammenziehung (z. B. beim Waden- krampf), oder wenn sie sehr lange, selbst in sehr mässiger Zusam- menziehung erhalten wurden (Ermüdung). In diesem letzten Fall überdauert der Schmerz die Zusammenziehung oft sehr lange Zeit. Diese Empfindung tritt auch in den unwillkürlich beweglichen Muskeln wie in denen der Därme, dem Uterus, vielleicht in der Contraktion des Magens (als Hunger?) oder der glatten Muskelfasern der cutis (als Ameisenkriechen, Kitzeln u. dgl.) ein. c. Es scheint, als ob einige Muskeln im Stande wären (vermittelst der Nerven) dem verlängerten Mark oder andern Hirntheilen durch den Zustand der Zusammenziehung Erregungen mitzutheilen, welche Reflexbewegungen in andern Muskeln auslössten. Diese Fälle scheinen selten zu sein und ihre Erklärung steht noch nicht ganz fest, wir ver- weisen auf die Schlund- und Darmbewegung bei der Lehre von der Verdauung. Ob die Nerven, die dem Muskelsinne dienen, und diejenigen, welche die Muskelbewegung veranlassen dieselben sind, ist gegenwärtig schwer zu entscheiden. *) Es wäre denkbar und nicht unwahrschein- lich, dass alle Einflüsse, welche durch willkürliche Nerven auf unsere Vorstellungen und sinnlichen Urtheile ausgeübt werden, sogleich durch den Akt der willkürlichen Erregung geschehen, so dass die Willens- anstrengung nach einer oder der andern Richtung hin als ein Element in unser Urtheil aufgenommen würde. Diese Meinung findet ihre Stütze darin, dass die das Urtheil bestimmenden Bewegungen in den überwiegend meisten Fällen gar nicht als Muskelempfindungen auftreten. — Anderseits ist es dagegen wahrscheinlich, dass die Muskelgefühle und Muskelschmerzen sogenannten sensiblen Ner- venröhren ihren Ursprung verdanken, weil 1. fast allen ursprünglich nur motorischen Nervenwurzeln auf ihrem Weg zu den Muskeln sensible beigemengt werden; so den n. n. facialis, oculomotorius, hypo- glossus u. s. w. 2. Weil man in unwillkürlich beweglichen Muskeln ebenso heftige Schmerzen empfindet, als in willkührlich beweglichen. 3. Weil selbst die heftigsten Erregungsmittel auf die mit dem Rücken- mark und Hirn in Verbindung stehenden vordern oder motorischen Ner- venwurzeln angewendet keinen Schmerz erzeugen (Bellsches Gesetz.) 4. Weil endlich die nach dauernden Anstrengungen in den Muskeln ent- stehenden Schmerzen noch Stunden und selbst Tage lang nach dem Auf- hören der Erregung motorischer Nerven bestehen. Das Unternehmen *) Spiess, Physiologie des Nervensystems. Braunschweig 1844. p. 76.

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Zitationshilfe: Ludwig, Carl: Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Bd. 1. Heidelberg, 1852, S. 361. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_physiologie01_1852/375>, abgerufen am 22.11.2024.