Wie schwer es den Zeitgenossen und Nachfolgern ge- worden ist, sich ganz in den Gedanken von Lagrange hineinzufinden, davon kann man sich leicht über- zeugen. Euler bemüht sich vergeblich, sich den Unter- schied einer Variation und eines Differentials dadurch aufzuklären, dass er sich Constanten in der Function enthalten denkt, mit deren Veränderung die Form der Function sich ändert. Die Zuwüchse des Werthes der Function, welche von den Zuwüchsen dieser Constanten herrühren, sollen nun die Variationen sein, während die Zuwüchse der Function, welche Zuwüchsen der unab- hängig Variablen entsprechen, die Differentiale sind. Es ergibt sich durch diese Ansicht eine eigenthümlich ängstliche engherzige und inconsequente Auffassung der Variationsrechnung, welche sicherlich an jene Lagrange's nicht hinanreicht. Noch Lindelof's modernes sonst aus- gezeichnetes Buch leidet an diesem Uebelstand. Eine vollkommen zutreffende Darstellung des Lagrange'schen Gedankens hat unsers Erachtens erst Jellett gegeben. Er scheint das ausgesprochen zu haben, was Lagrange vielleicht nicht ganz auszusprechen vermochte, vielleicht auch auszusprechen für überflüssig hielt.
8. Die Auffassung Jellett's ist in Kürze folgende. So wie man die Werthe mancher Grössen als constant, die Werthe anderer als veränderlich betrachtet, unter den letztern Grössen aber wieder unabhängig (oder willkürlich) veränderliche von abhängig veränderlichen (variablen) unterscheidet, so kann man auch eine Functionsform als bestimmt oder unbestimmt (ver- änderlich) ansehen. Ist eine Functionsform
[Formel 1]
veränderlich, so kann sich der Werth der Function y sowol durch einen Zuwachs dx der unabhängig Va- riable x, als auch durch eine Veränderung der Form, Uebergang von [ph] zu [ph]1 ändern. Die erstere Aenderung ist das Differential dy, die letztere die Variation [d]y. Es ist also
[Formel 2]
und
[Formel 3]
.
Die formelle Entwickelung der Mechanik.
Wie schwer es den Zeitgenossen und Nachfolgern ge- worden ist, sich ganz in den Gedanken von Lagrange hineinzufinden, davon kann man sich leicht über- zeugen. Euler bemüht sich vergeblich, sich den Unter- schied einer Variation und eines Differentials dadurch aufzuklären, dass er sich Constanten in der Function enthalten denkt, mit deren Veränderung die Form der Function sich ändert. Die Zuwüchse des Werthes der Function, welche von den Zuwüchsen dieser Constanten herrühren, sollen nun die Variationen sein, während die Zuwüchse der Function, welche Zuwüchsen der unab- hängig Variablen entsprechen, die Differentiale sind. Es ergibt sich durch diese Ansicht eine eigenthümlich ängstliche engherzige und inconsequente Auffassung der Variationsrechnung, welche sicherlich an jene Lagrange’s nicht hinanreicht. Noch Lindelof’s modernes sonst aus- gezeichnetes Buch leidet an diesem Uebelstand. Eine vollkommen zutreffende Darstellung des Lagrange’schen Gedankens hat unsers Erachtens erst Jellett gegeben. Er scheint das ausgesprochen zu haben, was Lagrange vielleicht nicht ganz auszusprechen vermochte, vielleicht auch auszusprechen für überflüssig hielt.
8. Die Auffassung Jellett’s ist in Kürze folgende. So wie man die Werthe mancher Grössen als constant, die Werthe anderer als veränderlich betrachtet, unter den letztern Grössen aber wieder unabhängig (oder willkürlich) veränderliche von abhängig veränderlichen (variablen) unterscheidet, so kann man auch eine Functionsform als bestimmt oder unbestimmt (ver- änderlich) ansehen. Ist eine Functionsform
[Formel 1]
veränderlich, so kann sich der Werth der Function y sowol durch einen Zuwachs dx der unabhängig Va- riable x, als auch durch eine Veränderung der Form, Uebergang von [φ] zu [φ]1 ändern. Die erstere Aenderung ist das Differential dy, die letztere die Variation [δ]y. Es ist also
[Formel 2]
und
[Formel 3]
.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0423"n="411"/><fwplace="top"type="header">Die formelle Entwickelung der Mechanik.</fw><lb/><p>Wie schwer es den Zeitgenossen und Nachfolgern ge-<lb/>
worden ist, sich ganz in den Gedanken von Lagrange<lb/>
hineinzufinden, davon kann man sich leicht über-<lb/>
zeugen. Euler bemüht sich vergeblich, sich den Unter-<lb/>
schied einer Variation und eines Differentials dadurch<lb/>
aufzuklären, dass er sich Constanten in der Function<lb/>
enthalten denkt, mit deren Veränderung die Form der<lb/>
Function sich ändert. Die Zuwüchse des Werthes der<lb/>
Function, welche von den Zuwüchsen dieser Constanten<lb/>
herrühren, sollen nun die Variationen sein, während die<lb/>
Zuwüchse der Function, welche Zuwüchsen der unab-<lb/>
hängig Variablen entsprechen, die Differentiale sind.<lb/>
Es ergibt sich durch diese Ansicht eine eigenthümlich<lb/>
ängstliche engherzige und inconsequente Auffassung der<lb/>
Variationsrechnung, welche sicherlich an jene Lagrange’s<lb/>
nicht hinanreicht. Noch Lindelof’s modernes sonst aus-<lb/>
gezeichnetes Buch leidet an diesem Uebelstand. Eine<lb/>
vollkommen zutreffende Darstellung des Lagrange’schen<lb/>
Gedankens hat unsers Erachtens erst Jellett gegeben.<lb/>
Er scheint das ausgesprochen zu haben, was Lagrange<lb/>
vielleicht nicht ganz auszusprechen vermochte, vielleicht<lb/>
auch auszusprechen für überflüssig hielt.</p><lb/><p>8. Die Auffassung Jellett’s ist in Kürze folgende. So<lb/>
wie man die Werthe mancher Grössen als <hirendition="#g">constant</hi>,<lb/>
die Werthe anderer als <hirendition="#g">veränderlich</hi> betrachtet, unter<lb/>
den letztern Grössen aber wieder unabhängig (oder<lb/>
willkürlich) veränderliche von abhängig veränderlichen<lb/>
(variablen) unterscheidet, so kann man auch eine<lb/>
Functionsform als <hirendition="#g">bestimmt</hi> oder <hirendition="#g">unbestimmt</hi> (ver-<lb/>
änderlich) ansehen. Ist eine Functionsform <formula/><lb/>
veränderlich, so kann sich der Werth der Function <hirendition="#i">y</hi><lb/>
sowol durch einen Zuwachs <hirendition="#g"><hirendition="#i">dx</hi></hi> der unabhängig Va-<lb/>
riable <hirendition="#i">x</hi>, als auch durch eine Veränderung der <hirendition="#g">Form</hi>,<lb/>
Uebergang von <supplied>φ</supplied> zu <supplied>φ</supplied><hirendition="#sub">1</hi> ändern. Die erstere Aenderung<lb/>
ist das Differential <hirendition="#g"><hirendition="#i">dy</hi></hi>, die letztere die <hirendition="#g">Variation <supplied>δ</supplied><hirendition="#i">y</hi></hi>.<lb/>
Es ist also <formula/> und<lb/><formula/>.</p><lb/></div></div></body></text></TEI>
[411/0423]
Die formelle Entwickelung der Mechanik.
Wie schwer es den Zeitgenossen und Nachfolgern ge-
worden ist, sich ganz in den Gedanken von Lagrange
hineinzufinden, davon kann man sich leicht über-
zeugen. Euler bemüht sich vergeblich, sich den Unter-
schied einer Variation und eines Differentials dadurch
aufzuklären, dass er sich Constanten in der Function
enthalten denkt, mit deren Veränderung die Form der
Function sich ändert. Die Zuwüchse des Werthes der
Function, welche von den Zuwüchsen dieser Constanten
herrühren, sollen nun die Variationen sein, während die
Zuwüchse der Function, welche Zuwüchsen der unab-
hängig Variablen entsprechen, die Differentiale sind.
Es ergibt sich durch diese Ansicht eine eigenthümlich
ängstliche engherzige und inconsequente Auffassung der
Variationsrechnung, welche sicherlich an jene Lagrange’s
nicht hinanreicht. Noch Lindelof’s modernes sonst aus-
gezeichnetes Buch leidet an diesem Uebelstand. Eine
vollkommen zutreffende Darstellung des Lagrange’schen
Gedankens hat unsers Erachtens erst Jellett gegeben.
Er scheint das ausgesprochen zu haben, was Lagrange
vielleicht nicht ganz auszusprechen vermochte, vielleicht
auch auszusprechen für überflüssig hielt.
8. Die Auffassung Jellett’s ist in Kürze folgende. So
wie man die Werthe mancher Grössen als constant,
die Werthe anderer als veränderlich betrachtet, unter
den letztern Grössen aber wieder unabhängig (oder
willkürlich) veränderliche von abhängig veränderlichen
(variablen) unterscheidet, so kann man auch eine
Functionsform als bestimmt oder unbestimmt (ver-
änderlich) ansehen. Ist eine Functionsform [FORMEL]
veränderlich, so kann sich der Werth der Function y
sowol durch einen Zuwachs dx der unabhängig Va-
riable x, als auch durch eine Veränderung der Form,
Uebergang von φ zu φ1 ändern. Die erstere Aenderung
ist das Differential dy, die letztere die Variation δy.
Es ist also [FORMEL] und
[FORMEL].
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Mach, Ernst: Die Mechanik in ihrer Entwicklung. Leipzig, 1883, S. 411. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mach_mechanik_1883/423>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.