Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Mach, Ernst: Die Mechanik in ihrer Entwicklung. Leipzig, 1883.

Bild:
<< vorherige Seite
Die formelle Entwickelung der Mechanik.

So verhält es sich auch mit allen Hypothesen, welche
zur Erklärung neuer Erscheinungen herangezogen wer-
1

1 Raum überall gleich beschaffen erscheinen. Es könnte den-
selben für unendlich halten, und würde nur durch die Er-
fahrung vom Gegentheil überzeugt. Von zwei Punkten
eines grössten Kreises senkrecht zu demselben ebenfalls
nach grössten Kreisen fortschreitend, würde dieses Wesen
kaum erwarten, dass diese Kreise sich irgendwo schneiden.
So kann auch für den uns gegebenen Raum nur die Er-
fahrung
lehren, ob derselbe endlich ist, ob Parallellinien
in demselben sich schneiden u. s. w. Diese Aufklärung kann
kaum hoch genug angeschlagen werden. Eine ähnliche Auf-
klärung, wie sie Riemann für die Wissenschaft herbeigeführt,
hat sich für das gemeine Bewusstsein in Bezug auf die
Erdoberfläche durch die Entdeckungen der ersten Welt-
umsegler ergeben.
Die theoretische Untersuchung der erwähnten mathe-
matischen Möglichkeiten hat zunächst mit der Frage, ob
denselben Realitäten entsprechen, nichts zu thun, und man
darf daher auch nicht die genannten Mathematiker für die
Monstrositäten verantwortlich machen, welche durch ihre Un-
tersuchungen angeregt worden sind. Der Raum des Gesichtes
und Getastes ist dreidimensional, daran hat nie jemand
gezweifelt. Würden aus diesem Raume Körper verschwin-
den, oder neue in denselben hineingerathen, so könnte die
Frage, ob es eine Erleichterung der Einsicht und Ueber-
sicht gewährt, sich den gegebenen Raum als Theil eines
vier- oder mehrdimensionalen Raumes zu denken, wissen-
schaftlich discutirt werden. Diese vierte Dimension bliebe
darum immer noch ein Gedankending.
So steht aber die Sache nicht. Derartige Erscheinungen
sind vielmehr erst nach dem Bekanntwerden der neuen
Anschauungen in Gegenwart gewisser Personen in Spiritisten-
gesellschaften aufgetreten. Manchen Theologen, welche in
Verlegenheit waren die Hölle unterzubringen, und den Spi-
ritisten kam die vierte Dimension sehr gelegen. Der Nutzen
der vierten Dimension für die Spiritisten ist folgender. Aus
einer begrenzten Linie kann man ohne die Endpunkte zu
passiren durch die zweite Dimension, aus einer begrenzten
geschlossenen Fläche durch die dritte und analog aus einem
geschlossenen Raum durch die vierte Dimension entweichen,
ohne die Grenzen zu durchbrechen. Selbst das, was die
Taschenspieler bisher harmlos in drei Dimensionen trieben,
erhält nun durch die vierte Dimension einen neuen Nimbus
Mach. 30
Die formelle Entwickelung der Mechanik.

So verhält es sich auch mit allen Hypothesen, welche
zur Erklärung neuer Erscheinungen herangezogen wer-
1

1 Raum überall gleich beschaffen erscheinen. Es könnte den-
selben für unendlich halten, und würde nur durch die Er-
fahrung vom Gegentheil überzeugt. Von zwei Punkten
eines grössten Kreises senkrecht zu demselben ebenfalls
nach grössten Kreisen fortschreitend, würde dieses Wesen
kaum erwarten, dass diese Kreise sich irgendwo schneiden.
So kann auch für den uns gegebenen Raum nur die Er-
fahrung
lehren, ob derselbe endlich ist, ob Parallellinien
in demselben sich schneiden u. s. w. Diese Aufklärung kann
kaum hoch genug angeschlagen werden. Eine ähnliche Auf-
klärung, wie sie Riemann für die Wissenschaft herbeigeführt,
hat sich für das gemeine Bewusstsein in Bezug auf die
Erdoberfläche durch die Entdeckungen der ersten Welt-
umsegler ergeben.
Die theoretische Untersuchung der erwähnten mathe-
matischen Möglichkeiten hat zunächst mit der Frage, ob
denselben Realitäten entsprechen, nichts zu thun, und man
darf daher auch nicht die genannten Mathematiker für die
Monstrositäten verantwortlich machen, welche durch ihre Un-
tersuchungen angeregt worden sind. Der Raum des Gesichtes
und Getastes ist dreidimensional, daran hat nie jemand
gezweifelt. Würden aus diesem Raume Körper verschwin-
den, oder neue in denselben hineingerathen, so könnte die
Frage, ob es eine Erleichterung der Einsicht und Ueber-
sicht gewährt, sich den gegebenen Raum als Theil eines
vier- oder mehrdimensionalen Raumes zu denken, wissen-
schaftlich discutirt werden. Diese vierte Dimension bliebe
darum immer noch ein Gedankending.
So steht aber die Sache nicht. Derartige Erscheinungen
sind vielmehr erst nach dem Bekanntwerden der neuen
Anschauungen in Gegenwart gewisser Personen in Spiritisten-
gesellschaften aufgetreten. Manchen Theologen, welche in
Verlegenheit waren die Hölle unterzubringen, und den Spi-
ritisten kam die vierte Dimension sehr gelegen. Der Nutzen
der vierten Dimension für die Spiritisten ist folgender. Aus
einer begrenzten Linie kann man ohne die Endpunkte zu
passiren durch die zweite Dimension, aus einer begrenzten
geschlossenen Fläche durch die dritte und analog aus einem
geschlossenen Raum durch die vierte Dimension entweichen,
ohne die Grenzen zu durchbrechen. Selbst das, was die
Taschenspieler bisher harmlos in drei Dimensionen trieben,
erhält nun durch die vierte Dimension einen neuen Nimbus
Mach. 30
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0477" n="465"/>
          <fw place="top" type="header">Die formelle Entwickelung der Mechanik.</fw><lb/>
          <p>So verhält es sich auch mit allen Hypothesen, welche<lb/>
zur Erklärung neuer Erscheinungen herangezogen wer-<lb/><note xml:id="b464" next="#c464" place="foot" n="1">Raum überall gleich beschaffen erscheinen. Es könnte den-<lb/>
selben für unendlich halten, und würde nur durch die Er-<lb/>
fahrung vom Gegentheil überzeugt. Von zwei Punkten<lb/>
eines grössten Kreises senkrecht zu demselben ebenfalls<lb/>
nach grössten Kreisen fortschreitend, würde dieses Wesen<lb/>
kaum erwarten, dass diese Kreise sich irgendwo schneiden.<lb/>
So kann auch für den uns gegebenen Raum nur die <hi rendition="#g">Er-<lb/>
fahrung</hi> lehren, ob derselbe endlich ist, ob Parallellinien<lb/>
in demselben sich schneiden u. s. w. Diese Aufklärung kann<lb/>
kaum hoch genug angeschlagen werden. Eine ähnliche Auf-<lb/>
klärung, wie sie Riemann für die Wissenschaft herbeigeführt,<lb/>
hat sich für das gemeine Bewusstsein in Bezug auf die<lb/>
Erdoberfläche durch die Entdeckungen der ersten Welt-<lb/>
umsegler ergeben.<lb/>
Die theoretische Untersuchung der erwähnten mathe-<lb/>
matischen Möglichkeiten hat zunächst mit der Frage, ob<lb/>
denselben Realitäten entsprechen, nichts zu thun, und man<lb/>
darf daher auch nicht die genannten Mathematiker für die<lb/>
Monstrositäten verantwortlich machen, welche durch ihre Un-<lb/>
tersuchungen angeregt worden sind. Der Raum des Gesichtes<lb/>
und Getastes ist <hi rendition="#g">drei</hi>dimensional, daran hat nie jemand<lb/>
gezweifelt. Würden aus diesem Raume Körper verschwin-<lb/>
den, oder neue in denselben hineingerathen, so könnte die<lb/>
Frage, ob es eine Erleichterung der Einsicht und Ueber-<lb/>
sicht gewährt, sich den gegebenen Raum als Theil eines<lb/>
vier- oder mehrdimensionalen Raumes zu denken, wissen-<lb/>
schaftlich discutirt werden. Diese vierte Dimension bliebe<lb/>
darum immer noch ein Gedankending.<lb/>
So steht aber die Sache nicht. Derartige Erscheinungen<lb/>
sind vielmehr erst <hi rendition="#g">nach</hi> dem Bekanntwerden der neuen<lb/>
Anschauungen in Gegenwart gewisser Personen in Spiritisten-<lb/>
gesellschaften aufgetreten. Manchen Theologen, welche in<lb/>
Verlegenheit waren die Hölle unterzubringen, und den Spi-<lb/>
ritisten kam die vierte Dimension sehr gelegen. Der Nutzen<lb/>
der vierten Dimension für die Spiritisten ist folgender. Aus<lb/>
einer begrenzten Linie kann man ohne die Endpunkte zu<lb/>
passiren durch die zweite Dimension, aus einer begrenzten<lb/>
geschlossenen Fläche durch die dritte und analog aus einem<lb/>
geschlossenen Raum durch die vierte Dimension entweichen,<lb/>
ohne die Grenzen zu durchbrechen. Selbst das, was die<lb/>
Taschenspieler bisher harmlos in drei Dimensionen trieben,<lb/>
erhält nun durch die vierte Dimension einen neuen Nimbus</note><lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#k">Mach.</hi> 30</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[465/0477] Die formelle Entwickelung der Mechanik. So verhält es sich auch mit allen Hypothesen, welche zur Erklärung neuer Erscheinungen herangezogen wer- 1 1 Raum überall gleich beschaffen erscheinen. Es könnte den- selben für unendlich halten, und würde nur durch die Er- fahrung vom Gegentheil überzeugt. Von zwei Punkten eines grössten Kreises senkrecht zu demselben ebenfalls nach grössten Kreisen fortschreitend, würde dieses Wesen kaum erwarten, dass diese Kreise sich irgendwo schneiden. So kann auch für den uns gegebenen Raum nur die Er- fahrung lehren, ob derselbe endlich ist, ob Parallellinien in demselben sich schneiden u. s. w. Diese Aufklärung kann kaum hoch genug angeschlagen werden. Eine ähnliche Auf- klärung, wie sie Riemann für die Wissenschaft herbeigeführt, hat sich für das gemeine Bewusstsein in Bezug auf die Erdoberfläche durch die Entdeckungen der ersten Welt- umsegler ergeben. Die theoretische Untersuchung der erwähnten mathe- matischen Möglichkeiten hat zunächst mit der Frage, ob denselben Realitäten entsprechen, nichts zu thun, und man darf daher auch nicht die genannten Mathematiker für die Monstrositäten verantwortlich machen, welche durch ihre Un- tersuchungen angeregt worden sind. Der Raum des Gesichtes und Getastes ist dreidimensional, daran hat nie jemand gezweifelt. Würden aus diesem Raume Körper verschwin- den, oder neue in denselben hineingerathen, so könnte die Frage, ob es eine Erleichterung der Einsicht und Ueber- sicht gewährt, sich den gegebenen Raum als Theil eines vier- oder mehrdimensionalen Raumes zu denken, wissen- schaftlich discutirt werden. Diese vierte Dimension bliebe darum immer noch ein Gedankending. So steht aber die Sache nicht. Derartige Erscheinungen sind vielmehr erst nach dem Bekanntwerden der neuen Anschauungen in Gegenwart gewisser Personen in Spiritisten- gesellschaften aufgetreten. Manchen Theologen, welche in Verlegenheit waren die Hölle unterzubringen, und den Spi- ritisten kam die vierte Dimension sehr gelegen. Der Nutzen der vierten Dimension für die Spiritisten ist folgender. Aus einer begrenzten Linie kann man ohne die Endpunkte zu passiren durch die zweite Dimension, aus einer begrenzten geschlossenen Fläche durch die dritte und analog aus einem geschlossenen Raum durch die vierte Dimension entweichen, ohne die Grenzen zu durchbrechen. Selbst das, was die Taschenspieler bisher harmlos in drei Dimensionen trieben, erhält nun durch die vierte Dimension einen neuen Nimbus Mach. 30

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/mach_mechanik_1883
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/mach_mechanik_1883/477
Zitationshilfe: Mach, Ernst: Die Mechanik in ihrer Entwicklung. Leipzig, 1883, S. 465. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mach_mechanik_1883/477>, abgerufen am 23.11.2024.