FÜNFTES KAPITEL. Beziehungen der Mechanik zu andern Wissensgebieten.
1. Beziehungen der Mechanik zur Physik.
1. Rein mechanische Vorgänge gibt es nicht. Wenn Massen gegenseitige Beschleunigungen bestimmen, so scheint dies allerdings ein reiner Bewegungsvorgang zu sein. Allein immer sind mit diesen Bewegungen in Wirklichkeit auch thermische, magnetische und elektri- sche Aenderungen verbunden, und in dem Maasse, als diese hervortreten, werden die Bewegungsvorgänge modificirt. Umgekehrt können auch thermische, mag- netische, elektrische und chemische Umstände Be- wegungen bestimmen. Rein mechanische Vorgänge sind also Abstractionen, die absichtlich oder nothgedrungen zum Zwecke der leichtern Uebersicht vorgenommen werden. Dies gilt auch von den übrigen Classen der physikalischen Erscheinungen. Jeder Vorgang gehört genau genommen allen Gebieten der Physik an, welche nur durch eine theils conventionelle, theils physiologische, theils historisch begründete Eintheilung getrennt sind.
2. Die Anschauung, dass die Mechanik als Grund- lage aller übrigen Zweige der Physik betrachtet wer- den müsse, und dass alle physikalischen Vorgänge mechanisch zu erklären seien, halten wir für ein Vor- urtheil. Das historisch Aeltere muss nicht immer die Grundlage für das Verständniss des später Gefundenen bleiben. In dem Maasse, als mehr Thatsachen bekannt und geordnet werden, können auch ganz neue leitende Anschauungen platzgreifen. Wir können jetzt noch gar nicht wissen, welche von den physikalischen Er- scheinungen am tiefsten gehen, ob nicht die mecha- nischen gerade die oberflächlichsten sind, ob nicht alle gleich tief gehen. Auch in der Mechanik betrachten wir ja nicht mehr das älteste Gesetz, das Hebelgesetz, als die Grundlage aller übrigen.
Die mechanische Naturansicht erscheint uns als eine
30*
Fünftes Kapitel. Beziehungen der Mechanik.
FÜNFTES KAPITEL. Beziehungen der Mechanik zu andern Wissensgebieten.
1. Beziehungen der Mechanik zur Physik.
1. Rein mechanische Vorgänge gibt es nicht. Wenn Massen gegenseitige Beschleunigungen bestimmen, so scheint dies allerdings ein reiner Bewegungsvorgang zu sein. Allein immer sind mit diesen Bewegungen in Wirklichkeit auch thermische, magnetische und elektri- sche Aenderungen verbunden, und in dem Maasse, als diese hervortreten, werden die Bewegungsvorgänge modificirt. Umgekehrt können auch thermische, mag- netische, elektrische und chemische Umstände Be- wegungen bestimmen. Rein mechanische Vorgänge sind also Abstractionen, die absichtlich oder nothgedrungen zum Zwecke der leichtern Uebersicht vorgenommen werden. Dies gilt auch von den übrigen Classen der physikalischen Erscheinungen. Jeder Vorgang gehört genau genommen allen Gebieten der Physik an, welche nur durch eine theils conventionelle, theils physiologische, theils historisch begründete Eintheilung getrennt sind.
2. Die Anschauung, dass die Mechanik als Grund- lage aller übrigen Zweige der Physik betrachtet wer- den müsse, und dass alle physikalischen Vorgänge mechanisch zu erklären seien, halten wir für ein Vor- urtheil. Das historisch Aeltere muss nicht immer die Grundlage für das Verständniss des später Gefundenen bleiben. In dem Maasse, als mehr Thatsachen bekannt und geordnet werden, können auch ganz neue leitende Anschauungen platzgreifen. Wir können jetzt noch gar nicht wissen, welche von den physikalischen Er- scheinungen am tiefsten gehen, ob nicht die mecha- nischen gerade die oberflächlichsten sind, ob nicht alle gleich tief gehen. Auch in der Mechanik betrachten wir ja nicht mehr das älteste Gesetz, das Hebelgesetz, als die Grundlage aller übrigen.
Die mechanische Naturansicht erscheint uns als eine
30*
<TEI><text><body><pbfacs="#f0479"n="467"/><fwplace="top"type="header">Fünftes Kapitel. Beziehungen der Mechanik.</fw><lb/><divn="1"><head>FÜNFTES KAPITEL.<lb/>
Beziehungen der Mechanik zu andern Wissensgebieten.</head><lb/><divn="2"><head><hirendition="#i">1. Beziehungen der Mechanik zur Physik.</hi></head><lb/><p>1. Rein mechanische Vorgänge gibt es nicht. Wenn<lb/>
Massen gegenseitige Beschleunigungen bestimmen, so<lb/>
scheint dies allerdings ein reiner Bewegungsvorgang zu<lb/>
sein. Allein immer sind mit diesen Bewegungen in<lb/>
Wirklichkeit auch thermische, magnetische und elektri-<lb/>
sche Aenderungen verbunden, und in dem Maasse, als<lb/>
diese hervortreten, werden die Bewegungsvorgänge<lb/>
modificirt. Umgekehrt können auch thermische, mag-<lb/>
netische, elektrische und chemische Umstände Be-<lb/>
wegungen bestimmen. Rein mechanische Vorgänge sind<lb/>
also Abstractionen, die absichtlich oder nothgedrungen<lb/>
zum Zwecke der leichtern Uebersicht vorgenommen<lb/>
werden. Dies gilt auch von den übrigen Classen der<lb/>
physikalischen Erscheinungen. Jeder Vorgang gehört<lb/>
genau genommen allen Gebieten der Physik an, welche<lb/>
nur durch eine theils conventionelle, theils physiologische,<lb/>
theils historisch begründete Eintheilung getrennt sind.</p><lb/><p>2. Die Anschauung, dass die Mechanik als Grund-<lb/>
lage aller übrigen Zweige der Physik betrachtet wer-<lb/>
den müsse, und dass alle physikalischen Vorgänge<lb/><hirendition="#g">mechanisch</hi> zu erklären seien, halten wir für ein Vor-<lb/>
urtheil. Das historisch Aeltere muss nicht immer die<lb/>
Grundlage für das Verständniss des später Gefundenen<lb/><hirendition="#g">bleiben</hi>. In dem Maasse, als mehr Thatsachen bekannt<lb/>
und geordnet werden, können auch ganz neue leitende<lb/>
Anschauungen platzgreifen. Wir können jetzt noch<lb/>
gar nicht wissen, welche von den physikalischen Er-<lb/>
scheinungen am <hirendition="#g">tiefsten</hi> gehen, ob nicht die mecha-<lb/>
nischen gerade die oberflächlichsten sind, ob nicht alle<lb/><hirendition="#g">gleich tief</hi> gehen. Auch in der Mechanik betrachten<lb/>
wir ja nicht mehr das älteste Gesetz, das Hebelgesetz,<lb/>
als die Grundlage aller übrigen.</p><lb/><p>Die mechanische Naturansicht erscheint uns als eine<lb/><fwplace="bottom"type="sig">30*</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[467/0479]
Fünftes Kapitel. Beziehungen der Mechanik.
FÜNFTES KAPITEL.
Beziehungen der Mechanik zu andern Wissensgebieten.
1. Beziehungen der Mechanik zur Physik.
1. Rein mechanische Vorgänge gibt es nicht. Wenn
Massen gegenseitige Beschleunigungen bestimmen, so
scheint dies allerdings ein reiner Bewegungsvorgang zu
sein. Allein immer sind mit diesen Bewegungen in
Wirklichkeit auch thermische, magnetische und elektri-
sche Aenderungen verbunden, und in dem Maasse, als
diese hervortreten, werden die Bewegungsvorgänge
modificirt. Umgekehrt können auch thermische, mag-
netische, elektrische und chemische Umstände Be-
wegungen bestimmen. Rein mechanische Vorgänge sind
also Abstractionen, die absichtlich oder nothgedrungen
zum Zwecke der leichtern Uebersicht vorgenommen
werden. Dies gilt auch von den übrigen Classen der
physikalischen Erscheinungen. Jeder Vorgang gehört
genau genommen allen Gebieten der Physik an, welche
nur durch eine theils conventionelle, theils physiologische,
theils historisch begründete Eintheilung getrennt sind.
2. Die Anschauung, dass die Mechanik als Grund-
lage aller übrigen Zweige der Physik betrachtet wer-
den müsse, und dass alle physikalischen Vorgänge
mechanisch zu erklären seien, halten wir für ein Vor-
urtheil. Das historisch Aeltere muss nicht immer die
Grundlage für das Verständniss des später Gefundenen
bleiben. In dem Maasse, als mehr Thatsachen bekannt
und geordnet werden, können auch ganz neue leitende
Anschauungen platzgreifen. Wir können jetzt noch
gar nicht wissen, welche von den physikalischen Er-
scheinungen am tiefsten gehen, ob nicht die mecha-
nischen gerade die oberflächlichsten sind, ob nicht alle
gleich tief gehen. Auch in der Mechanik betrachten
wir ja nicht mehr das älteste Gesetz, das Hebelgesetz,
als die Grundlage aller übrigen.
Die mechanische Naturansicht erscheint uns als eine
30*
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Mach, Ernst: Die Mechanik in ihrer Entwicklung. Leipzig, 1883, S. 467. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mach_mechanik_1883/479>, abgerufen am 27.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.