Marezoll, Johann Gottlob: Andachtsbuch für das weibliche Geschlecht vorzüglich für den aufgeklärten Theil desselben. Bd. 2. Leipzig, 1788.Die Liebe. ten Einbildungskraft leiten lasse, wenn ich mir eine Welterträume, die der wirklichen Welt gerade entgegen ist, wenn ich mir in derselben Menschen als Gegenstände meiner Liebe vorstelle und ihnen Eigenschaften und Vollkommenheiten andichte, wie sie nirgends anzu- treffen sind. O wie viele unschuldige, wie viele un- erfahrne Personen meines Geschlechts sind durch diesen Irrthum unglücklich geworden! Zu welchen Thorhei- ten kann und muß eine solche Denkungsart verleiten! Welche unvorsichtige, gefährliche Schritte muß ich thun, so bald ich anders handeln und andere Wege einschlagen will, als mir meine Natur, meine Lage und die Umstände in der Welt erlauben! Da unter- nehme ich unmögliche und vergebliche Dinge. Da suche oder wünsche ich wenigstens allen Unterschied der Stände und Klassen unter den Menschen aufzuheben. Da ver- werfe ich oft ohne Gründe den Rath eines für mein Glück besorgten Vaters, einer zärtlichen und mich liebenden Mutter. Da strebe ich, alle Bande, die mich an meine Familie fesseln, zu zerreissen, wün- sche kein Glied derselben zu seyn und bin undankbar gegen meine unermüdetsten Wohlthäter. Da verachte ich jedes nahe Glück der Liebe, welches sich mir an- bietet, hoffe auf ein grösseres, meinen schwärmerischen Wünschen entsprechenderes und mache mich dadurch ungeschickt, meine Bestimmung zu erreichen. Da lege ich am Ende die Ursachen meines Misvergnügens und meiner fehlgeschlagenen Absichten denen zur Last, die es gut und treu mit mir meinen; ja, da klage ich oft selbst deine Vorsehung als hart und unge- recht
Die Liebe. ten Einbildungskraft leiten laſſe, wenn ich mir eine Welterträume, die der wirklichen Welt gerade entgegen iſt, wenn ich mir in derſelben Menſchen als Gegenſtände meiner Liebe vorſtelle und ihnen Eigenſchaften und Vollkommenheiten andichte, wie ſie nirgends anzu- treffen ſind. O wie viele unſchuldige, wie viele un- erfahrne Perſonen meines Geſchlechts ſind durch dieſen Irrthum unglücklich geworden! Zu welchen Thorhei- ten kann und muß eine ſolche Denkungsart verleiten! Welche unvorſichtige, gefährliche Schritte muß ich thun, ſo bald ich anders handeln und andere Wege einſchlagen will, als mir meine Natur, meine Lage und die Umſtände in der Welt erlauben! Da unter- nehme ich unmögliche und vergebliche Dinge. Da ſuche oder wünſche ich wenigſtens allen Unterſchied der Stände und Klaſſen unter den Menſchen aufzuheben. Da ver- werfe ich oft ohne Gründe den Rath eines für mein Glück beſorgten Vaters, einer zärtlichen und mich liebenden Mutter. Da ſtrebe ich, alle Bande, die mich an meine Familie feſſeln, zu zerreiſſen, wün- ſche kein Glied derſelben zu ſeyn und bin undankbar gegen meine unermüdetſten Wohlthäter. Da verachte ich jedes nahe Glück der Liebe, welches ſich mir an- bietet, hoffe auf ein gröſſeres, meinen ſchwärmeriſchen Wünſchen entſprechenderes und mache mich dadurch ungeſchickt, meine Beſtimmung zu erreichen. Da lege ich am Ende die Urſachen meines Misvergnügens und meiner fehlgeſchlagenen Abſichten denen zur Laſt, die es gut und treu mit mir meinen; ja, da klage ich oft ſelbſt deine Vorſehung als hart und unge- recht
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Die Liebe.
ten Einbildungskraft leiten laſſe, wenn ich mir eine Welt
erträume, die der wirklichen Welt gerade entgegen iſt,
wenn ich mir in derſelben Menſchen als Gegenſtände
meiner Liebe vorſtelle und ihnen Eigenſchaften und
Vollkommenheiten andichte, wie ſie nirgends anzu-
treffen ſind. O wie viele unſchuldige, wie viele un-
erfahrne Perſonen meines Geſchlechts ſind durch dieſen
Irrthum unglücklich geworden! Zu welchen Thorhei-
ten kann und muß eine ſolche Denkungsart verleiten!
Welche unvorſichtige, gefährliche Schritte muß ich
thun, ſo bald ich anders handeln und andere Wege
einſchlagen will, als mir meine Natur, meine Lage
und die Umſtände in der Welt erlauben! Da unter-
nehme ich unmögliche und vergebliche Dinge. Da ſuche
oder wünſche ich wenigſtens allen Unterſchied der Stände
und Klaſſen unter den Menſchen aufzuheben. Da ver-
werfe ich oft ohne Gründe den Rath eines für mein
Glück beſorgten Vaters, einer zärtlichen und mich
liebenden Mutter. Da ſtrebe ich, alle Bande, die
mich an meine Familie feſſeln, zu zerreiſſen, wün-
ſche kein Glied derſelben zu ſeyn und bin undankbar
gegen meine unermüdetſten Wohlthäter. Da verachte
ich jedes nahe Glück der Liebe, welches ſich mir an-
bietet, hoffe auf ein gröſſeres, meinen ſchwärmeriſchen
Wünſchen entſprechenderes und mache mich dadurch
ungeſchickt, meine Beſtimmung zu erreichen. Da
lege ich am Ende die Urſachen meines Misvergnügens
und meiner fehlgeſchlagenen Abſichten denen zur Laſt,
die es gut und treu mit mir meinen; ja, da klage
ich oft ſelbſt deine Vorſehung als hart und unge-
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