Marezoll, Johann Gottlob: Andachtsbuch für das weibliche Geschlecht vorzüglich für den aufgeklärten Theil desselben. Bd. 2. Leipzig, 1788.Die kinderlose Gattin. sich von diesen Freudenquellen, wenn er sie nicht gehö-rig achtet und schätzet, wenn er jene nicht gebrauchen und aus diesen nicht schöpfen will. Freylich ist der Mensch nicht selten so thöricht, nur gewisse Vorzüge besitzen und sich nur gewisser Quellen bedienen zu wollen, und wenn ihm jene nicht zu Theil geworden und diese verschlossen sind, sich für zurückgesetzt und elend zu halten. Aber so sind es seine Kurzsichtigkeit und sein Eigensinn, nicht aber sein Stand und seine Lage, die ihn unzufrieden und weniger glücklich machen, als er seyn könnte und sollte. Vielleicht, o Gott, befinde auch ich mich in Nein, deine Vorsehung, o Gott, erstrecket sich sie O 3
Die kinderloſe Gattin. ſich von dieſen Freudenquellen, wenn er ſie nicht gehö-rig achtet und ſchätzet, wenn er jene nicht gebrauchen und aus dieſen nicht ſchöpfen will. Freylich iſt der Menſch nicht ſelten ſo thöricht, nur gewiſſe Vorzüge beſitzen und ſich nur gewiſſer Quellen bedienen zu wollen, und wenn ihm jene nicht zu Theil geworden und dieſe verſchloſſen ſind, ſich für zurückgeſetzt und elend zu halten. Aber ſo ſind es ſeine Kurzſichtigkeit und ſein Eigenſinn, nicht aber ſein Stand und ſeine Lage, die ihn unzufrieden und weniger glücklich machen, als er ſeyn könnte und ſollte. Vielleicht, o Gott, befinde auch ich mich in Nein, deine Vorſehung, o Gott, erſtrecket ſich ſie O 3
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Die kinderloſe Gattin.
ſich von dieſen Freudenquellen, wenn er ſie nicht gehö-
rig achtet und ſchätzet, wenn er jene nicht gebrauchen
und aus dieſen nicht ſchöpfen will. Freylich iſt der
Menſch nicht ſelten ſo thöricht, nur gewiſſe Vorzüge
beſitzen und ſich nur gewiſſer Quellen bedienen zu wollen,
und wenn ihm jene nicht zu Theil geworden und dieſe
verſchloſſen ſind, ſich für zurückgeſetzt und elend zu
halten. Aber ſo ſind es ſeine Kurzſichtigkeit und ſein
Eigenſinn, nicht aber ſein Stand und ſeine Lage, die
ihn unzufrieden und weniger glücklich machen, als er
ſeyn könnte und ſollte.
Vielleicht, o Gott, befinde auch ich mich in
dieſem Falle. Vielleicht beurtheile auch ich mein Glück
und meine Vorzüge zu einſeitig und glaube aller Freu-
den beraubt zu ſeyn, weil ich nicht die ſüſſen Mutter-
freuden genießen kann. Und gewiß ſind Kinder dein
Geſchenk und ein ſehr großes, theures Geſchenk. Ge-
wiß muß ihr Anblick einer guten, zärtlichen Mutter
Vergnügen und wahres, bleibendes Vergnügen ge-
währen. Du haſt mir dieſes koſtbare Geſchenk und
dieſes ſchätzbare Vergnügen verſagt; und dadurch ſcheine
ich allerdings viel an meiner irrdiſchen Glückſeligkeit zu
verlieren. Aber ob ich wirklich dadurch verliere, und
ob ich oder irgend ein anderes Geſchöpf durch deine
Einrichtung und durch deinen Willen etwas verlieren
kann, das darf ich wohl nicht nach dem bloßen An-
ſcheine, das muß ich durch Hülfe der Vernunft und
der Religion beurtheilen.
Nein, deine Vorſehung, o Gott, erſtrecket ſich
über alles. Sie umfaſſet auch mich und meine Lage;
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