Oder vermag ich denn die Schicksale der Men- schen im Voraus zu übersehen und zu bestimmen? Kenne ich den Gang der menschlichen Begebenheiten so genau, als ich ihn kennen müßte, wenn ich mich durch Kinder für beglückter halten sollte? Könnte nicht ihr Daseyn, ihr Charakter, ihre Lage Pein und Qual für mich werden? Wäre es unmöglich, daß sie als meine Kinder gerade in solche Verhältnisse und Verbindungen mit der Welt gesetzt würden, die ihnen nachtheilig seyn und ihr Unglück bewirken müßten? Wäre es unmöglich, daß sie nach dem unabänderlichen Laufe und der Einrichtung der Dinge in verdorbene Ge- sellschaften, unter leichtsinnige, lasterhafte Menschen, in die Hände des Verführers geriethen? Wäre es unmöglich, daß sie als meine Kinder den Saamen der Kränklichkeit und eines hinfälligen siechen Körpers von mir erbten und sich traurig durch ein freudenloses Leben hinschleppen müßten? Könnte dann ihr Da- seyn Glück für sie selbst und für mich Vergnügen seyn?
Doch wie vermag ich deine verborgenen Absich- ten zu enträthseln und deinen Plan zu durchschauen? Genug, daß ich dich als den Allweisen und Allgüti- gen kenne; daß ich davon versichert bin, wie al- les, was du thust und willst, heilsam ist! Genug, daß der Gedanke in mir herrschet und lebet: ich wür- de, könnte nicht so zufrieden und glücklich seyn, als ich wirklich bin, wenn ich Mutter geworden wäre! Jch fühle die Wahrheit dieses Gedankens, wenn ich mir auch gleich die Gründe davon nicht deutlich und
bestimmt
O 4
Die kinderloſe Gattin.
Oder vermag ich denn die Schickſale der Men- ſchen im Voraus zu überſehen und zu beſtimmen? Kenne ich den Gang der menſchlichen Begebenheiten ſo genau, als ich ihn kennen müßte, wenn ich mich durch Kinder für beglückter halten ſollte? Könnte nicht ihr Daſeyn, ihr Charakter, ihre Lage Pein und Qual für mich werden? Wäre es unmöglich, daß ſie als meine Kinder gerade in ſolche Verhältniſſe und Verbindungen mit der Welt geſetzt würden, die ihnen nachtheilig ſeyn und ihr Unglück bewirken müßten? Wäre es unmöglich, daß ſie nach dem unabänderlichen Laufe und der Einrichtung der Dinge in verdorbene Ge- ſellſchaften, unter leichtſinnige, laſterhafte Menſchen, in die Hände des Verführers geriethen? Wäre es unmöglich, daß ſie als meine Kinder den Saamen der Kränklichkeit und eines hinfälligen ſiechen Körpers von mir erbten und ſich traurig durch ein freudenloſes Leben hinſchleppen müßten? Könnte dann ihr Da- ſeyn Glück für ſie ſelbſt und für mich Vergnügen ſeyn?
Doch wie vermag ich deine verborgenen Abſich- ten zu enträthſeln und deinen Plan zu durchſchauen? Genug, daß ich dich als den Allweiſen und Allgüti- gen kenne; daß ich davon verſichert bin, wie al- les, was du thuſt und willſt, heilſam iſt! Genug, daß der Gedanke in mir herrſchet und lebet: ich wür- de, könnte nicht ſo zufrieden und glücklich ſeyn, als ich wirklich bin, wenn ich Mutter geworden wäre! Jch fühle die Wahrheit dieſes Gedankens, wenn ich mir auch gleich die Gründe davon nicht deutlich und
beſtimmt
O 4
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Die kinderloſe Gattin.
Oder vermag ich denn die Schickſale der Men-
ſchen im Voraus zu überſehen und zu beſtimmen?
Kenne ich den Gang der menſchlichen Begebenheiten
ſo genau, als ich ihn kennen müßte, wenn ich mich
durch Kinder für beglückter halten ſollte? Könnte
nicht ihr Daſeyn, ihr Charakter, ihre Lage Pein und
Qual für mich werden? Wäre es unmöglich, daß
ſie als meine Kinder gerade in ſolche Verhältniſſe und
Verbindungen mit der Welt geſetzt würden, die ihnen
nachtheilig ſeyn und ihr Unglück bewirken müßten?
Wäre es unmöglich, daß ſie nach dem unabänderlichen
Laufe und der Einrichtung der Dinge in verdorbene Ge-
ſellſchaften, unter leichtſinnige, laſterhafte Menſchen,
in die Hände des Verführers geriethen? Wäre es
unmöglich, daß ſie als meine Kinder den Saamen
der Kränklichkeit und eines hinfälligen ſiechen Körpers
von mir erbten und ſich traurig durch ein freudenloſes
Leben hinſchleppen müßten? Könnte dann ihr Da-
ſeyn Glück für ſie ſelbſt und für mich Vergnügen ſeyn?
Doch wie vermag ich deine verborgenen Abſich-
ten zu enträthſeln und deinen Plan zu durchſchauen?
Genug, daß ich dich als den Allweiſen und Allgüti-
gen kenne; daß ich davon verſichert bin, wie al-
les, was du thuſt und willſt, heilſam iſt! Genug,
daß der Gedanke in mir herrſchet und lebet: ich wür-
de, könnte nicht ſo zufrieden und glücklich ſeyn, als
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Jch fühle die Wahrheit dieſes Gedankens, wenn ich
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Matthias Boenig, Yannic Bracke, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Linda Kirsten, Xi Zhang:
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Marezoll, Johann Gottlob: Andachtsbuch für das weibliche Geschlecht vorzüglich für den aufgeklärten Theil desselben. Bd. 2. Leipzig, 1788, S. 215. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/marezoll_andachtsbuch02_1788/227>, abgerufen am 16.02.2025.
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